Tod an der Ruhr
Hugo hatte auf Sankt Antony im benachbarten Osterfeld das Licht der Welt erblickt, wo sein Vater seinerzeit Hütteninspektor war. Nur ein Jahr älter als Jacobi war Carl Lueg, der als Sohn von Wilhelm Lueg und seiner Frau Sophie, einer geborenen Haniel, in Sterkrade aufgewachsen war. Schon als Vierundzwanzigjähriger hatte Carl Lueg die Leitung der Oberhausener Eisenhütte übernommen.
Was die drei da gerade miteinander besprachen, so vermutete Anton Witte, könnte bedeutsamer für die Zukunft der Menschen in Sterkrade sein als jedes Palaver im Gemeinderat, ja, vielleicht sogar wichtiger als manches Edikt, das die königliche Regierung im fernen Berlin erließ.
»Noch ein Gläschen Wein, Herr Pfarrer?« Der Bursche des Hauses Haniel, den der Herr Direktor gelegentlich fürs Servieren im neuen Kasino abstellte, stand mit einer Flasche roten Ahrweines vor Dechant Witte. Der nickte zerstreut und sah, dass gerade sein evangelischer Amtsbruder August Kreutzberg zur Tür hereinkam.
Hoffentlich steuerte der jetzt nicht wieder geradewegs auf ihn zu. Witte tat so, als wäre er im »Kladderadatsch« vertieft. Eigentlich mochte er ihn ja ganz gern, den Pfarrer Kreutzberg, einen schwergewichtigen, humorvollen Menschen, den man nur selten ohne seine Tabakspfeife sah. Aber diese ewigen Diskussionen über den »Syllabus errorum«, die hatte er allmählich wirklich satt.
Immerhin war es jetzt fast zwei Jahre her, dass Papst Pius IX. seine Stellungnahme zu den Irrtümern der Welt herausgegeben hatte, und was Pfarrer Kreutzberg dazu zu sagen hatte, das war Pfarrer Witte inzwischen zur Genüge bekannt. Eine Kampfansage an die Grundlagen der modernen Zivilisation sei der Syllabus und ein Zeugnis römischer Intoleranz in Glaubens- und Gewissensfragen. Weiß der Himmel, welchem liberalen Blättchen der evangelische Kollege diese Weisheiten entnommen hatte. Gelesen hatte der die päpstliche Stellungnahme sicher nicht.
August Kreutzberg begrüßte Direktor Haniel und die jungen Herren Lueg und Jacobi, die alle drei seine Pfarrkinder waren. Erstaunlich eigentlich, ging Dechant Witte durch den Kopf, dass beinahe alle, die in Sterkrade was zu sagen haben, evangelisch sind. Dabei gab es hier bis vor wenigen Jahrzehnten nicht einen einzigen Reformierten. Die ersten waren die Jacobis, die 1808 hierher gekommen waren, als der alte Gottlob die Leitung der Eisenhütte übernommen hatte.
Auch heute noch war Sterkrade ein katholisches Dorf. Kaum mehr als ein Zehntel der Einwohner gehörte zu Pfarrer Kreutzbergs Pfarrkindern. Doch hier, im neuen Kasino der Gesellschaft Erholung, war der katholische Pastor Anton Witte beinahe ein Exot.
Nicht allein deshalb beschlich ihn im Moment das Gefühl, weit weg zu sein von seinem Dorf, obwohl er durch die Fensterscheiben Sankt Clemens sehen konnte. Diese Welt da draußen, in der zur Zeit die Cholera wütete, war, aus dem Fenster des Kasinos betrachtet, eine ferne, fremde Welt. Eigentlich hatte Anton Witte ihr heute Abend einmal entfliehen wollen, hatte er für ein paar Stunden nicht an all das Elend, an Krankheit und Tod denken wollen. Aber es gelang ihm nicht.
In diesem Dorf da draußen, in seinem Dorf, da rangen auch zur Stunde wieder Menschen mit dem Tod. Seine Schäfchen waren es, die armen Leute, die Arbeiter, ihre Frauen und ihre Kinder, die von der Cholera dahingerafft wurden.
Jacob Möllenbeck, der Gute, der tat zwar, was er konnte, aber Anton Witte wusste, dass es nicht genug war. Die Kranken brauchten mehr Pflege und Zuwendung, als ein Mann allein ihnen geben konnte. Tagelang hatte Witte sich den Kopf darüber zermartert, was noch getan werden könnte – und dann hatte er den Brief nach Münster geschrieben. Er musste mit dem Heildiener reden, unbedingt. Morgen nach der Frühmesse würde er zur Cholerabaracke gehen und Möllenbeck von seinen Absichten in Kenntnis setzten.
»Also, Herr Dechant, dieses Weinchen ist ein Geschenk Gottes, ganz ohne Frage.« Pfarrer August Kreutzberg, wie Anton Witte Ehrenmitglied der Gesellschaft Erholung, ließ sich neben seinem Amtsbruder auf dem Kanapee nieder. Heute schien ihm, Gott sei Dank, nicht der Sinn nach theologischen Diskussionen zu stehen. »Meinen Respekt, Herr Dechant! Dass Sie Mitglied der Weinprüfungs-Commission geworden sind, das ist der Qualität unseres Rebensaftes wirklich zugute gekommen.«
Anton Witte bedankte sich mit einem freundlichen Lächeln.
»Nun ja, von den Gaumenfreuden habt ihr Katholischen ja schon immer eine Menge
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