Tod auf dem Drahtseil (Roman) (German Edition)
dem es sie gepackt hatte, und nach mehr als einem heftigen Streit mit ihrem Vater war sie einfach gegangen, hatte ihren Namen geändert und lebte seitdem im und für den Zirkus. Um diese Position zu erreichen, der Star der Flying Generations zu sein, hatte sie mehr als hart arbeiten müssen; war ganz klein angefangen als Tierpflegerin, oder vielmehr Mädchen für alles, hatte Fragen gestellt, gelernt, geübt, bis schließlich der große Tag gekommen war, an dem sie sich einfach in die Trapeztruppe hineindrängte und darauf bestand, dass man ihr zusah und beurteilte, was sie konnte.
Angus McNeill hatte ihr zunächst die Hölle heiß gemacht, dann jedoch seinen Sohn Stuart angewiesen sie zu fangen, wenn sie es denn schaffen sollte, bis dorthin zu fliegen - und zehn Minuten später war er begeistert gewesen. Pat hatte, vom Boden aus, jede Figur, jeden Bruchteil von Sekunden instinktiv erfasst und war in der Lage gewesen, sich selbst in die Springerin hineinzuversetzen.
Angus schaute jetzt Pat hinterher, die mit raschen Schritten dem Ausgang entgegenlief, um sich ein wenig die Schulter massieren zu lassen. Im Grunde war dieses Training vorbei, vor allem, da auch die Zeit drängte, denn die nächsten, die die große Manege zum Training benutzten, waren die Dompteure mit den Raubtieren. Und dafür mussten zunächst einmal die großen Schutzgitter rund um die Manege aufgestellt werden, wie auch der Gitterlaufgang, von den Käfigen in die Arena. Das alles kostete Zeit.
Als Pat hinausging, umgab sie der vertraute Geruch des Zirkus. Sie atmete tief ein, hier fühlte sie sich zuhause, das hier war ihre Welt.
Sie ging zielsicher durch die abgestellten Wohnwagen zu einem bestimmten hin und klopfte an dessen Tür. Colin Frazier, der Weißclown öffnete, schaute Pat an und grinste dann verständnisvoll.
„Ist es wieder einmal soweit?“, fragte er.
Pat nickte. „Stuart hat irgendwie den Arm beim Fangen verdreht, glaube ich, und die ganze Schulter tut mir weh.“
„Na, komm herein, Kleine. Eigentlich wäre es ja die Aufgabe von Angus, dir die Schulter zu massieren...“
„Aber du machst das doch viel besser“, schmeichelte sie.
Colin war ein alter Mann von fast siebzig Jahren, und der Zirkus war sein Leben, er war Weißclown, solange er denken konnte. Aber wie in fast jedem Zirkus war es so, dass außerhalb der Vorstellungen eigentlich jeder jedem half. Und irgendwann hatte Pat festgestellt, dass Colin heilende Hände besitzen musste, denn nach jeder Massage bei ihm fühlte sie sich wie neugeboren. So auch jetzt.
Colin machte keine langen Umstände, setzte Pat in einen Stuhl und begann fachmännisch und sehr wirkungsvoll die Schulter zu massieren, so dass Pat nach kurzer Zeit wie in Kätzchen schnurrte, als die Schmerzen nachließen.
„Du bist ein wahrer Zauberer“, lobte sie, umarmte den alten Mann und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
Der grinste nur. „Kein Zauberer, mein Mädchen, nur ein alter Clown, der in seinem langen Leben viel aufgeschnappt hat...“
„...und jetzt der Retter in der Not ist“, vollendete sie den Satz, warf ihm noch einmal eine Kusshand zu und lief dann hinaus.
Aus dem Hauptzelt mit der großen Manege hörte sie das Fauchen der Löwen, dazwischen die lauten Befehle von Alexej, dem russischen Dompteur; ein wenig rechts von ihr, auf einer freien Fläche, übte Belinda mit den Pferden die hohe Schule, drüben probten die Springer mit den Katapulten und winkten ihr aus der Luft zu.
Pat warf einen Blick auf die Uhr, noch ungefähr zwei Stunden bis zur Öffnung der Kassen, da konnte sie noch etwas essen und sich ein wenig ausruhen. Heute würde es ihre Aufgabe sein, am Eingang die Karten zu verkaufen. Jeder im Zirkus hatte mehrere Aufgaben, anders war es nicht zu schaffen, denn Personal war teuer.
Pat ging hinüber zum Küchenzelt. Viele der Artisten kochten in ihren Wohnwagen selbst, doch wer keine Lust oder Zeit dazu hatte, ging in die zentrale Küche, wo man zu jeder Zeit etwas Warmes zu essen bekommen konnte, denn die Essenszeiten waren äußerst unterschiedlich. Und es war das, was Pat als Hochleistungsartistin brauchte, vielleicht nicht so wohlschmeckend, wie es hätte sein können, aber kalorienreich und nahrhaft. Und seit einigen Jahren kannte sie auch gar nichts anderes mehr, man gewöhnte sich an alles, fand sie. Seit sie von ihrem Vater fortgegangen war und im Zirkus lebte, gehörte das Essen im Küchenzelt zu ihren täglichen Gewohnheiten.
*
Später in der
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