Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)
Wällen, Redouten, aus mindestens hundert schwarzen Kanonenmäulern vom Kaliber 68 hatte Captain Oldershaws vorgezogene Nr. VII stundenlang umgegraben. Von fünfundsechzig Männern kamen nur drei zurück, der Rest wurde getragen, so oder so. Die Überlebenden wurden noch am gleichen Abend von keinem Geringeren als Brigadegeneral Darcey persönlich ausgezeichnet.
Von der täglichen Teezeremonie ließen sie auch inmitten dieses Wahnsinns nicht, lediglich gewisse Standes-, Rang- und Klassenunterschiede verschwammen dabei allmählich. Seit sechs Monaten lagen alle im gleichen Dreck, Offiziere und Mannschaften, Adlige und Bürgerliche, Briten, Franzosen, ein paar versprengte Türken und die gefürchteten indischen
Gurkhas, die nachts bis an die Wälle heranschlichen und sich unvorsichtige russische Wachtposten holten. Regen und Schlamm dieser endlosen Belagerung hoben sogar die heilige Trennung zwischen den Waffengattungen auf, und Seeleute, Infanteristen, Kanoniere und die letzten Überlebenden der bei Balaclava zerschlagenen Kavallerie saßen gemeinsam in kleinen und größeren Gruppen beim Tee und lauschten auf den unausgesetzten Donner des Bombardements.
Vom 9. bis zum 18. April 1855 gingen hundertdreißigtausend Schuss Granaten und Kanonenkugeln auf Sewastopol nieder.
Was so besonders heldenhaft daran sei, sich zusammenschießen zu lassen, fragte der sommersprossige Leutnant einer Versorgungseinheit, dem der höchst unwillige Umgang mit nassen Pferden anzumerken war, den konsternierten Corporal der vorgezogenen Siebten.
»Das ist eine Belagerung, Junge«, kam die Antwort aus dem Mund eines hochgewachsenen Marineoffiziers, der erst am Morgen mit dreitausend Kisten Munition über die Victoria Ridge gekommen war, frisch aus England, und sogar die neuesten Zeitungen dabeihatte. In London bejubelten sie demnach immer noch die Schlacht von Inkerman, die hier schon wieder Geschichte war. Eine vergebliche noch dazu, denn der russische Kommandant Todleben, ein Teufel in Menschengestalt, hatte den Berg sozusagen mit Picke und Schaufel zurückerobert und über Nacht zwei gewaltige Schanzen zwischen sich und die Alliierten gelegt. Der Malakoff-Turm war damit so gut wie uneinnehmbar geworden, und die Belagerer waren nun beinahe die Belagerten.
»Bei einer Belagerung«, fuhr der Seemann fort, »kommt es nur darauf an, dass die Belagerten möglichst bald ihr Pulver verschießen. Da muss man ihnen halt manchmal auch irgendwas zu treffen geben und eine Weile den Buckel hinhalten.«
»Das sagt sich leicht, Sir«, bemerkte säuerlich der hochdekorierte Kanonier, »wenn’s nicht der eigene Buckel ist.«
Ein Kamerad von der VIII. Batterie versuchte, den gereizten Mann zu beruhigen: »Meine Herren, einen Toast auf Captain Oldershaw und die vorgezogene Siebtente!«
»Mit diesem Gebräu?« Der Mariner schüttete angewidert seine Tasse aus. »Wahrscheinlich kochen die Plattfüße ihre Socken aus.« Einige Infanteristen eines Füsilierregiments knurrten beleidigt, nur die Gurkhas putzten ungerührt ihre Waffen. Was gingen sie die Auseinandersetzungen der Weißen an? Der angegriffene Artillerist aber sprang jetzt auf, wie aus einer Kanone geschossen.
»Sir, bei allem Respekt, das ist ein Affront! Ein Toast wurde ausgebracht. Die Männer der Siebenten kämpften heldenhaft gegen eine Übermacht von zehn zu eins, wenn nicht mehr.«
»Hipp, hipp!«, sagte sein Kamerad von der Achten.
»Nicht, wenn man die Franzosen mitzählt«, beharrte der Seemann.
»Aber wer macht denn so was?«, spotteten prompt die Infanteristen.
»Und nicht, wenn man einrechnet, über welches Material wir verfügen«, fuhr der hochgewachsene Offizier ungerührt nüchtern fort. »Ich möchte wetten, alles in allem ist unsere Feuerkraft mindestens doppelt so hoch wie die der Russen.«
»Mon Dieu«, mischte sich ein französischer Seemann ein, der als Melder von einer der eingeschlossenen Fregatten in der Roadstead kam und den die zehntägige Kanonade in den britischen Stellungen festhielt, »aber sie ’aben diese Turm, eh, diese Mauern. Und wir ’aben Zelte und, wie sagt man: sac de sable …«
»Sandsäcke«, übersetzte ein beinahe verhungert wirkender kleiner Aufklärer, in dem niemand den besten Kartenzeichner
seines Regiments vermutet hätte. Der sommersprossige junge Herr der Traingäule fügte leise hinzu: »Manche in Leinwand und manche in Uniform.«
»Ich habe das gehört, junger Mann«, erregte sich wieder der Artillerist. »Was wollen Sie damit
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