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Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Titel: Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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völlig klar. Er war neun Jahre alt, und seine Mutter blieb verschwunden, obwohl er überall dort suchte, wo sie sinnvollerweise sein konnte, sogar bei den anderen fliegenden Händlern, Betrügern, Stadtzigeunern Londons nach ihr fragte. Die meisten wussten nicht einmal,
wen er meinte. Und die es wussten, wussten nichts, hatten sie nicht gesehen und interessierten sich auch nicht weiter dafür. Jeden Tag verschwanden in der riesigen Stadt Menschen, wurden Kinder zurückgelassen, wer fragte danach?
    Nur einer, sein Hehler für gestohlene Bücher, ein langhaariger, ungepflegter, zahnloser verkrachter Student des Jahrgangs 1810, sagte: »Schmiere! Hoppgenommen vielleicht. Würde ich mal in Newgate fragen oder im Fleet oder Middlesex!«
    Ben klapperte am nächsten Tag die Gefängnisse und Polizeiwachen ab und hatte Mühe, von den ehrwürdigen Beamten auch nur gesehen zu werden.
    »Wie heißt denn deine Mutter, Junge?«
    »Jane Gowers. Oder Jane Williams.«
    »O Jesus, du weißt nicht mal, wie deine Mutter heißt ?! Warum suchst du sie dann? Hau ab und mach dir ein schönes Leben!«
    Er konnte sich ein Leben ohne seine Mutter nicht vorstellen. Und musste doch daran denken, das Geld dafür zu verdienen. Der Wirtin sagte er, Jane sei zu Verwandten gefahren, und sie glaubte ihm, ein Wunder der Mildtätigkeit, sodass er das Zimmer noch eine ganze Woche behalten durfte.
    Einer der Polizisten hatte einen bestimmten Verdacht geäußert, und Ben sparte zwei Pence an, um den Eintritt in die polizeiliche Morgue, das Leichenschauhaus von London, zu bezahlen. Immer wieder fielen täglich, wöchentlich so viele unbekannte Leichen, Ermordete, Erfrorene, Ertrunkene oder sonst wie zu Tode Gekommene an, dass die städtischen Behörden dazu übergegangen waren, für ihre Besichtigung Geld zu verlangen.
    Es kamen vor allem Medizinstudenten, aber auch Schaulustige aller Art. Künstler, die sich keine Modelle, Junggesellen, die sich keine Huren leisten konnten. Kinder allerdings nicht
ohne die Begleitung, den Zuspruch Erwachsener, denn viele der Leichen waren schauerlich anzusehen, meistens nackt, manchmal »schon etwas angegangen«, bisweilen auch nur in einzelnen Teilen vorhanden.
    Diese Vorschrift galt natürlich nicht für Angehörige, die sogar ihre zwei Pence zurückerstattet bekamen, wenn sie im Gegenzug einen Verstorbenen identifizierten und die Kosten der Beerdigung übernahmen. Entsprechend wenig Leichen wurden identifiziert.
    Ben schauderte bei dem Gedanken, seine Mutter hier zu entdecken, aber noch bevor er überhaupt hereindurfte, riet ihm ein Leichenwärter, der fast genauso blass war wie seine Kunden, es doch erst einmal in den Krankenhäusern der Stadt zu versuchen. »Vielleicht lebt deine Mutter ja noch. Und wenn nicht, kommst du wieder her!«
    Der Mann drückte dem Jungen noch ein Formular in die Hand: Name, Datum, Personenbeschreibung, Todesart. Wenn er das quittiert von den königlichen Krankenhäusern zurückbrächte, bräuchte er keinen Eintritt zu zahlen, um in der Morgue nach seiner Mutter zu suchen. Niemand solle schließlich behaupten, dass es in der Hauptstadt des Britischen Empire beim Sterben irgendwie ungeordnet zuginge.

112.
    Das Messer traf ihn von hinten, und Van Helmont wusste sofort, dass diese Wunde tödlich war. Er drehte noch den Kopf und sah kurz das dunkle Gesicht seines Mörders, der ihm völlig unbekannt war.
    Ehe er durch den physischen Schock zusammensackte, spürte er noch ein Gefühl der Verwunderung über den Hass,
den er in den Augen des anderen gesehen hatte. Den Hass, der ihn von hinten belauert hatte, vielleicht erst seit wenigen Stunden, vielleicht auch ein Leben lang. Vielleicht war es immer derselbe Hass. Aber wie kann man einen Menschen hassen, den man gar nicht kennt?, fragte er sich und gab sich auch selbst die Antwort: Man muss schon sich selbst hassen.
    Als er wieder zu sich kam, lag er noch immer allein in seinem Hotelzimmer, umgeben von seinen unausgeräumten Koffern und Kisten. Ihm fiel wieder ein, dass er sich gerade gefragt hatte, wie er das alles ohne Gowers’ Hilfe wieder von hier wegbringen sollte. Nun war die Frage, was Gowers mit dem ganzen Zeug anfangen würde. Van Helmont lachte über diese jähe Änderung des Sachverhalts, oder vielmehr: Er wollte lachen und bemerkte dabei, dass sein linker Lungenflügel durchbohrt sein musste. Er bekam fast keine Luft und selbst das bisschen brannte in ihm wie Feuer.
    Er versuchte, sich auf die Seite zu drehen, aber das gelang nicht.

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