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Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Titel: Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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von einer Woche fruchtlosen Suchens, in einer Nische der hohen Umfassungsmauer ein. Mit dem Sonnenaufgang wurde er wach, weil ein unheimliches, vielstimmiges Geheul hinter der Mauer den neuen Tag begrüßte.
    Schüchtern zog er an der Glocke, die die riesigen Pforten unter sechs weißen, marmornen Säulen öffnen konnte, aber dann tat sich nur eine kleine Tür auf, die in diese Pforten eingelassen war. Eine Tür in der Tür, die er zuerst gar nicht bemerkt hatte. Eine Riesin in grauer Schwesterntracht beugte ihren Nacken durch die Türöffnung.
    »Ja?«
    »Ich suche meine Mutter, Jane Gowers. Sie ist klein und hat lange schwarze Haare. Ist sie hier?«
    »Wann eingeliefert?«
    »Ich weiß nicht genau. Vielleicht vor fünf oder sechs Tagen.«
    »Klein, schwarzes Haar …« Die Riesin schien nachzudenken. »Lange Nase, keine Zähne, gewalttätig?«, fragte sie dann. Obwohl Ben das letzte Wort im Zusammenhang mit seiner Mutter noch nie gehört und noch nicht einmal gedacht hatte, sagte er: »Ja, das kann sie sein.«
    »Hier ist eine Frau, die wir Raven nennen, wegen der Haare. Hat keinen Namen genannt. Auch sonst nichts gesagt, nur gespuckt und getreten.«
    »Ich weiß nicht …«, sagte Ben, aber die Schwester fasste ihn scharf ins Auge, sein schwarzes Haar, sein müdes kleines Gesicht. »Könnte sein, könnte sein«, murmelte sie und winkte ihn über die Schwelle.
    Sie war die größte Frau, die er je gesehen hatte, und sie schloss die kleine Tür hinter ihm mit einem von mindestens vier Dutzend Schlüsseln, die sie an einem riesigen eisernen Ring trug, wieder ab. »Für Raven, vielleicht!«, rief sie in einen stickigen kleinen Seitenraum hinein und winkte ihm wieder, ging vor ihm einen langen schmalen Gang hinunter.
    Eine zweite Tür, dahinter das Tollhaus, der große Saal von Bedlam, gefüllt mit den harmloseren Irren der Hauptstadt, Männlein und Weiblein mit je einer eigenen Bettstatt, die sich tagsüber frei bewegen durften.
    Ein Singen, Pfeifen, Heulen, ein unablässiges Stimmengewirr drang durch ein kleines vergittertes Fenster in der Tür. Bibelverse, Shakespeare, Schreie nach Bier und Reden, die zumindest im Tonfall politisch klangen. Nur vereinzelt Obszönitäten. Jeder schien sich hier durch Reden seiner Existenz zu vergewissern.
    »Bleib dicht hinter mir«, sagte die Riesin. »Bleib nicht stehen und sieh niemanden an, sonst geht’s dir schlecht!«
    Ben schlug die Augen nieder, die Tür öffnete sich. Für den Bruchteil einer Sekunde verstummte der Lärm, dann brach er mit doppelter Lautstärke wieder los. Ein Mann rief: »Der König! Der König!«, und viele griffen das Wort auf: »Der König!« Manche lachten sogar, als sei das ein Witz, den nur Eingeweihte verstanden. Alles schien harmlos, aber dann bemerkte Ben, dass seine Führerin links und rechts gebieterische Blicke ausstreute, mit bösen Augen eine Gasse brach durch den versammelten Irrsinn, und er entdeckte jetzt auch den breiten Ledergürtel, der an ihrer linken Seite offen herabhing.
    Aus den Augenwinkeln sah er einen Mann, der mit aller Sorgfalt und Liebe eines geübten Handwerkers seine Hosen mit Schmieröl einrieb. Auf einem der Betten lag ein schlanker, ätherischer junger Herr, dem der Zipfel eines schmutzigen Taschentuchs aus dem Mundwinkel hing und der anscheinend dabei war, eine neue Philosophie zu ersinnen, wobei ihn die Ankunft Bens empfindlich störte.
    Sie erschien so plötzlich und direkt vor ihm, dass er vor Schreck stehen blieb. Keine junge Frau mehr, weiße Strähnen durchzogen ihr sauber gekämmtes Haar. Sie fiel vor ihm auf die Knie, damit ihr Gesicht auf der Höhe seiner Augen war, und schaute ihn neugierig an. Sie musste einmal sehr schön gewesen sein, jetzt aber grimassierte sie, und ihre Augen rollten so sehr, dass er manchmal nur das Weiße darin sah. Sie nickte heftig und sagte leise: »Eis. Eis in den Augen. Und Blut auf dem Eis, das ist nahe. Viele Leben und zwei Tode. Ich kann sie sehen. Ein zwanzigster ist dein Tag!«
    Ein derber Stoß fegte die Prophetin zur Seite, die Riesin nahm seine Hand und zog ihn mit sich fort. »Nicht stehen bleiben, hab ich gesagt!«
    Er fühlte, dass die Frau ihm nachsah.
    »Hüte dich«, rief sie noch, »hüte dich vor …« Aber er verstand nicht mehr, wovor er sich hüten sollte, denn ein schwarz gekleideter, hagerer Mann nahm ihr Wort auf und sagte sehr laut und im Kanzelton: »Hüte dich vor dem Menschen, denn er ist böse, und der Tod ist sein Teil!« Die klapperdürre Gestalt

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