Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)
wandte das Gesicht zur Decke, ekstatisch, und schrie ihre Botschaft hinauf: »Und er soll gebrochen werden sieben Mal und verstreut in sieben Winde, und das Angesicht der Erde soll ihn nicht sehen, denn er ist schwarz. Schwarz! Schwarz!«
Die dritte Tür. Ein weiterer Gang, heller diesmal, von dem links und rechts kleine hölzerne Türen abgingen, hinter denen
er dumpfe Geräusche hörte. So, als würde immer wieder etwas zu Boden geschleudert. Die Riesin hielt an vor der achten Zelle, der vierten Tür. Sie öffnete einen schmalen Spalt in Augenhöhe und sagte, sang: »Hee, Raven! Wo ist mein Vögelchen?!«
Ein Schlag, ein Klatschen blieb die einzige Antwort.
»Noch immer nicht müde, wie?«
Und zu dem Jungen gewandt, dem die Haare zu Berge standen, sagte sie: »Tobt seit sechs Tagen, schlägt gegen die Wände, so!« Sie schlug mit der flachen, riesigen Hand in die Luft, hielt erst wenige Zentimeter vor seinem Gesicht an und genoss sein Erschrecken. Lachte dann ein sattes, mehr sie selbst als den Jungen beruhigendes Lachen, als sie die neueste, erst ein Jahr alte Erfindung von Bedlam, die Gummizelle, vorstellte: »Aber die Wände sind hier gepolstert, so dick!«
Ihre Hände zeigten ihm, wie dick die Wände waren. Dabei stellte sie fest, dass der Sehschlitz, zu dem sie sich hinuntergebeugt hatte, für den Jungen unerreichbar war. Also nahm sie ihn unter den Achseln, hob ihn hoch, presste ihn gegen die Tür. »Und? Ist das deine Mutter?«
Ben sah eine nackte Frau mit geschorenen schwarzen Haaren. So hatte sie auch in Benwell ausgesehen, bevor sie dort weggingen. Ihre Augen waren geschlossen, Schweiß und Schmutz hatten hier und da eine Kruste auf ihrer Haut gebildet. Er sah Wunden, Kratzspuren, rote Striemen auf ihrem Leib. Sie erinnerte ihn an einen Baum ohne Rinde.
Plötzlich öffnete sie die Augen, hohlgeweint, blutunterlaufen, sah sein Gesicht in der kleinen Öffnung und blickte ihn sekundenlang starr an. Sie öffnete den Mund, öffnete auch ihre seit sechs Tagen zu Fäusten geballten Hände. Ein Schrei stieg auf aus dem schmalen, absterbenden Körper, langgezogen und seltsam tief schrie sie aus Leibeskräften: »JOHN!«
Jane warf sich mit solcher Gewalt gegen die Tür, dass Ben, trotz aller Polsterung und obwohl ihn die Riesin gepackt hielt, ein wenig zurückgeschleudert wurde. Das war das Letzte, was er von seiner Mutter spürte. Er weinte, ohne es zu wissen, die Tränen machten ihn blind. Wusste nicht und erfuhr nie, wie er an diesem Tag aus Bedlam herausgekommen war. Nur an das Beben der vierten Tür erinnerte er sich all seine vielen Leben lang.
114.
Gott lag im Sterben. Ein obdachloser alter Herr, ohne Beschäftigung, von seinen eigenen Theologen zu Tode gelangweilt. Seine Orden, Sekten, Konfessionen, alle Arten institutionalisierter Religion waren korrupte, nach Selbsterhaltung strebende Systeme geworden. Seit Jahrhunderten waren sie nicht mehr der Befriedigung transzendentaler Bedürfnisse, sondern nurmehr ihrer Monopolisierung verpflichtet und deshalb von der stetigen Anpassung an wechselnde Machtverhältnisse geprägt. Seine alte Wohnung, der Himmel – nichts als ein leerer Raum, von gelegentlichen Materieklumpen durchrast. Seine Schöpfung, die Welt – nur eine sich selbst überlassene Wucherung, die man straf- und rücksichtslos ausbeuten konnte. Sein Geschöpf, der Mensch – nachweislich nicht von ihm, sondern sukzessive aus zwölftausend Generationen von Affen herausgemendelt und nun endlich, endlich Herr im eigenen Haus!
Es war nicht mehr viel los mit Gott. Er war gründlich aus der Mode und um seine Notwendigkeit gekommen, in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Und nun stand seine Ethik, das Letzte, was man an ihm gelassen hatte, das christliche Gewissen,
auch noch den sich so prächtig entwickelnden Geschäften im Weg. Da musste eines von beiden geändert werden, um den Fortschritt nicht aufzuhalten. Also verschwand Gott aus dem Handel und Wandel der Menschen, wenn ihn die widerlicheren Vertreter der Spezies auch noch lange und lauthals im Maul führten, um der Welt vorzuschreiben, was in Gottes Namen zu geschehen hatte.
Das war – oder nannte John Gowers in seinen philosophischen Momenten – das Problem des Dammes. Da war kein Damm mehr vor Bosheit und Übermut, nichts, was die Menschen daran hinderte, einander die haarsträubendsten Dinge anzutun und die grässlichsten Lebensumstände zuzumuten. Nichts stand mehr dagegen, denn die Erklärung der Menschenrechte war gerade mal
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