Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)
Abgründe seiner Seele für jedermann oder irgendwen offen zutage traten.
Erst nach einer ausführlichen, aber erfolglosen Suchaktion,
bei der er schließlich das ganze Zimmer auf den Kopf stellte, keimte in ihm der Verdacht auf, eine von Lots Töchtern oder gar sein gottloses Weib könnte das Buch entwendet haben und sich heimlich an seinen Schweinereien ergötzen. Jedenfalls nahm er die sporadischen Äußerungen seiner Lieben, dass er sich nicht so in die Bücher hineingraben solle, die er früher stets mit patriarchalischem Wohlwollen wie Huldigungen entgegengenommen hatte, plötzlich sehr ungnädig auf.
Tatsächlich ließ ihn die Vorstellung nicht mehr los, irgendjemand in der Familie wisse mehr über seine literarischen Vorlieben, als dem Ansehen eines Hirten seiner Herde zuträglich war, und mache sich vielleicht sogar über ihn lustig. Natürlich konnte er mit keiner Menschenseele über seinen Verlust reden, denn was man nicht besitzen darf, kann einem auch nicht gestohlen werden. Das Quälendste aber war, dass man nun sogar nach seinem Tod Dinge über ihn wissen würde, die er im Leben niemandem gestanden hatte.
Je älter er wurde, desto größer war in der Tat Bens Vergnügen, wenn er sich die kopfschüttelnde Erregung des ehrwürdigen Joseph B. Gowers bei der Lektüre des Miller’s Tale oder vergleichbarer Erzählungen ausmalte. Mitleid konnte er allerdings nicht für seinen derart gequälten Vorfahren empfinden, denn von dieser ersten Bibliothek seines Lebens erinnerte er zwar die respektheischend knarrenden Dielen, die Furcht einflößende Höhe der Regale, an denen Generationen geschnitzt zu haben schienen, und die versammelte Würde einer dickleibigen, ledergebundenen Bildung, aber vor allem eben den Zeigefinger des selbstgerechten alten Mannes, der ihm die Tür dieser Welt wies.
Und Ben Williams war froh, dass er keine andere Erinnerung an seinen Großvater hatte.
40.
Ermittlungsarbeit war das Sammeln, Ordnen und Interpretieren von Informationen und insofern wissenschaftlicher Forschung durchaus vergleichbar. Der wesentliche Unterschied bestand darin, dass Wissenschaftler nur in Ausnahmefällen befürchten mussten, ihr Forschungsgegenstand werde aufspringen, eine Hieb-, Stich- oder Schusswaffe auf sie richten oder ihnen sonst wie kräftig eins über den Schädel geben. Diese einigermaßen erheiternde Vorstellung – jedenfalls wenn man dabei nicht an Afrikareisende, sondern Insekten- oder Bibelforscher dachte – nutzte der Investigator immer noch hin und wieder, um innerlich den manchmal spöttischen, meist aber nur blasierten Blicken zu begegnen, die ihn bei seinen Recherchen in Bibliotheken und Archiven irgendwann zu treffen pflegten.
Zwar hatte ihn seine Mutter Respekt vor dem geschriebenen Wort gelehrt, zwar hatte er sich selbst in Jahren und Jahren eines fast wütenden Bücherverschlingens eine erstaunlich profunde Bildung angeeignet, aber noch immer überfiel ihn jenseits der Pforten von Universitäten, Lehr- und Lesesälen das alte Gefühl, die Welt seiner Feinde zu betreten. Gelehrsamkeit in Goldschnitt und Folio starrte feindselig auf ihn herab, und blasse Menschen mit engen Kragen und fingerdicken Brillengläsern schienen mit jeder Regung zu fragen, was er hier suchte – der Kajütjunge mit den roten, vom Scheuersand rissigen Händen, der braun gebrannte, bezopfte Seemann, Arktisfahrer, Flusslotse, der nach einem Übermaß von Sonne und Tabak roch, der verwundete Captain der Nordarmee in seiner fadenscheinigen Uniform, der zwielichtige Ermittler mit dem Messer im Stiefel.
Früher waren es zuverlässig die Vorstellung von Gewalt und der Gedanke gewesen, dort jederzeit alles und jedermann zu Brei schlagen zu können, die ihm bei Bibliotheksrecherchen seine Gemütsruhe erhalten hatten. Inzwischen war es vor allem die Erfahrung, dass bisweilen ein einziges hingemurmeltes Wort noch des schäbigsten Informanten wertvoller für ihn war als zehn Regalmeter enzyklopädischen Weltwissens. Auch das war die Welle. Sie machte das Große klein, unwichtig und hob das Niedrige, Zufällige für einen einzigen funkelnden Augenblick ins Licht der Unverzichtbarkeit.
41.
»Tag, Mr. Thompson, Sir. Mein Name ist Barclay, George Barclay, ich komm wegen der Zigarre!«
»Bist du nicht noch ein bisschen zu jung dafür?«, fragte Gowers, obwohl er wusste, dass der Junge diese Frage hassen würde. Er selbst hatte es jedenfalls immer gehasst, zu jung für dieses oder jenes genannt zu werden. Tatsächlich
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