Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)
die
Gegend hopsten, oder jedenfalls hatte seine Mutter ihm so was erzählt.
Ben war das einzige Kind, das unter der Erde lachte.
Trotzdem hörte er sie kommen, die Strecke heraufkeuchen. Gleich würde seine Mutter »Tor!« rufen, er würde die Wettertür weit aufmachen, und sie würde lächeln und ihm eine kleine Rechenaufgabe stellen, wie jedes Mal. Obwohl er noch nicht sechs Jahre alt war und noch nicht richtig lesen konnte, war er in der Welt der Zahlen mit Janes Hilfe sogar schon bis zu den einfachsten Brüchen vorgedrungen. Es war ein Spiel für ihn, ein Spiel, bei dem man die Welt nicht brauchte, nichts, außer Vorstellungskraft. Zuerst stellte er sich immer die Finger seiner Mutter vor, mit denen sie ihm das einfache Zählen beigebracht hatte. Inzwischen benutzte er in seinem Kopf zusätzlich auch die seltsamen arabischen Zeichen, die sie ihm aufgemalt hatte. Nur die Null bereitete ihm noch eine Weile Schwierigkeiten, weil er sich nichts nicht vorstellen konnte.
Er registrierte das fremde Geräusch, beinahe ehe er es wirklich hörte. Ein Rutschen, Poltern, Anschlagen und dazwischen den verzweifelten Ruf »Ben! Ben!«. Darüber ein schriller, fast surrender Ton, der nicht endete, auch als alles vorüber war: das Schreien des fremden Mädchens, Helen, die mit beiden Beinen unter den wegrutschenden Wagen geraten war und mitgeschleift wurde.
Ben wühlte sich wie ein vor Angst rasendes kleines Tier den engen Gang hinunter und sah ein Bild, das ihn sein Leben lang verfolgen würde. Seine Mutter hing merkwürdig verdreht im Geschirr, kämpfte gegen einen unsichtbaren Feind, strampelte, wand sich und wurde doch langsam rückwärts, nach unten den Gang hinuntergezogen, als ob etwas Lebendiges an ihr zerrte und riss.
Jane krallte sich in Boden und Wänden fest, bis ihre Finger
bluteten, riss sich die Haut von Knien, Schienbeinen, Armen und fühlte doch nur, wie die Luft aus ihren Lungen gepresst wurde von dem ungeheuren Gewicht. Dann hatte Ben ihre Hand erreicht, dann die Stricke, die sie an diesen langsamen, qualvollen Tod fesselten. Aber er war erst fünf Jahre alt und hätte diese Last niemals allein halten können, so verzweifelt er es auch wollte und so wahnsinnig er es versuchte, wenn nicht Beth, von Mary-Ann alarmiert, sich von unten mit aller Kraft gegen den hochbeladenen Hund geworfen hätte.
Als alles vorbei war, als der Wagen mit blutigen Rädern oben in der Strecke stand, die Männer den Kopf schüttelten – »Blöde Fotzen!« – und Jane die Schmerzen zu fühlen begann, weinte und schrie Helen immer noch. Kein Zureden und keine Ohrfeige konnten sie beruhigen, und ihr Schreien durchschnitt die Luft wie ein Messer, schnitt tief ein in Seelen und Nerven, bis Ben ihr sein Känguru schenkte. Da wurde sie still und betrachtete nur noch verwundert das komische kleine Wesen.
»Das ist Belly«, sagte Ben. »So Tiere leben auf der anderen Seite der Erde, weit weg von hier.«
Helen lächelte. Er sah sie nie wieder. Hörte nur später, dass sie zum Sterben vier Wochen gebraucht hatte, und konnte sich darunter nichts vorstellen.
55.
Zwei Morde sind im Allgemeinen leichter aufzuklären als einer. Es ergibt sich dadurch so etwas wie ein Koordinatensystem, in dem Tätereigenschaften, Gewohnheiten der Opfer, mögliche Motive, die im Einzelfall eine Gerade von unbekannter Länge und Richtung darstellen, irgendwo in überschaubarer
Nähe einen Schnittpunkt mit der Linie des anderen Falles bilden. Diese Tatsache kam Gowers’ kombinatorischen Methoden sehr entgegen, und stundenlang saß er nun mit angezogenen Knien in seiner Koje, projizierte Diagramme, Rotoren, Ableitungsbäume hinter seine geschlossenen Lider oder auch mal in die dichten Rauchschwaden der obligatorischen Zigarre.
»Sie grinsen manchmal wie ein chinesischer Kuli in einer Opiumhöhle«, sagte Van Helmont. »Ist das nun Teil der Ermittlung oder die pure Wollust?«
»Beides«, sagte der Investigator wahrheitsgemäß. Warum sollte man das nicht zugeben? Jede Art Kunst oder Geschick geht bei einem wahren Könner über die bloße Notwendigkeit hinaus. Für Gowers war es so etwas wie ein Rausch der Nüchternheit, den seine Kombinationskunst ihm verschaffte – gerade, wenn sie die Ermittlung keinen Deut voranbrachte.
Es kam einer Trance nahe. Er war sehr verletzlich in solchen Momenten. Nicht labil in dem Sinne, dass er leicht gestört werden konnte, im Gegenteil. Wenn die Fakten in seinem Kopf herumwirbelten, einander trafen, abstießen oder sich
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