Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)
England und Frankreich gemeinsam die Waffen ergriffen hatten. Der Schiffskoch und der designierte Gouverneur von St. Helena hatten demnach auf derselben Seite gestanden. Falls man sie deshalb getötet hatte, würde noch einer halben Million anderer Männer, Engländer, Franzosen, Türken und Sarden, das gleiche Schicksal drohen. Wahrscheinlicher war, dass sie mehr verband als Sewastopol, Balaclava und Inkerman, aber was das war, konnte Gowers mit keinem Gedächtnissystem der Welt erraten. Den Schlüssel zu diesem Geheimnis, wenn es ein Geheimnis gab, besaß nun, nach Vivés Tod, nur noch sein Mörder. Da aus den vorhandenen irgendwie dazu bringen, neue zu hinterlassen, aber das hieß: Er musste sich exponieren.
Gowers vermutete richtig, dass es auf einem Schiff voller britischer Soldaten auch den einen oder anderen Veteranen
aus dem Krieg gegen Russland und für die Freiheit der Donauschifffahrt geben müsse. Er ließ deshalb in der Messe provozierende Äußerungen über die Belagerung von Sewastopol als eine der umständlichsten Aktionen der jüngeren Militärgeschichte fallen und behielt dabei insbesondere die älteren Offiziere scharf im Auge. Aber niemand fühlte sich beleidigt, keine Schnurrbartspitze zuckte unter dem Schlag, und ein Hauptmann Bledsoe pflichtete ihm sogar bei.
Koalitionskriege seien immer ein bisschen umständlich, hol sie der Teufel, genau wie die Gruppenreisen. Zu viele Interessen, zu viele Ideen, zu viele Köpfe, das mache den besten Krieg kaputt. Immer erst diese Fragen: Sind wir auch alle da? Sind auch alle dafür? – Wie soll man da eine Höhe stürmen? Eine Stadt einnehmen? Eine Stelle fürs Picknick finden?
Erst am zweiten Abend, in anderer Gesellschaft, hatte Gowers den gewünschten Erfolg.
»Wie soll ich diese Äußerung verstehen, junger Mann?!«, fragte aber kein Militär, sondern ausgerechnet der dicke Kaufmann Merriwell, unter dessen wogenden Fettschichten man nicht gerade einen Kriegshelden vermutet hätte.
»Wollen Sie etwas gegen Sewastopol sagen? Ich denke, der Erfolg gibt jeder Kampagne recht!«
Der Erste Offizier, der nach den harten Pflichten des Tages vor einer dampfenden Tasse Tee saß, schnalzte bei dieser Äußerung leise mit der Zunge und hörte dem weiteren Gespräch merkwürdig belustigt zu.
Gowers’ Entgegnung war geradezu kaufmännisch kühl kalkuliert. »Hunderttausend Tote allein durch Abwarten sind nicht gerade ein voller Erfolg, denke ich.«
»Sie haben noch keine Belagerung mitgemacht, junger Mann, keine richtige Schlacht!« Wie jeder Veteran jedes Krieges hielt Merriwell nur die militärischen Ereignisse für
»richtig« und wichtig, an denen er selbst teilgenommen hatte. »Haben Sie überhaupt mal gedient, geschweige denn gekämpft ?«
»Nein«, sagte Gowers und dachte an New Orleans, Vicksburg, die Schlacht in der Wilderness, »aber mein Vater hat mir alles davon erzählt.«
In Merriwells schnellen kleinen Äuglein blitzte etwas auf, das es eigentlich gar nicht gibt: joviale Verachtung.
»Und Bleisoldaten hatten Sie wahrscheinlich auch«, stellte er höhnisch fest.
»Nicht genug, um Sewastopol damit nachzuspielen, Sir«, erwiderte Gowers, und als der Kaufmann diese Anspielung nicht verstand oder nicht verstehen wollte, fügte er hinzu: »Die meisten dürften sich doch gegenseitig totgetreten haben, nicht wahr?«
Merriwell schwitzte. Vor zehn Jahren hätte er den frechen Burschen einfach geohrfeigt. Jetzt schätzte er seine Kräfte ab und die seines Gegenübers. Ja, wenn er von hinten an ihn herankäme! Aber der Kaufmann siegte über den Veteranen. Er hob sein Glas und sagte herausfordernd: »Einen Toast auf die Leichte Brigade, Sir! Honor the Charge they made, Honor the Light Brigade, Noble six hundred!« 5
»All the World wonder’d!« 6 , ergänzte Gowers, lächelte und trank mit. Und während er die Gläser erneut füllte, erwiderte er: »Einen Toast auf Florence Nightingale!«
»Sie lebe!«, entgegnete Merriwell und dachte beim Hinunterschlucken :
Ein dürres Weib, ein Holzkreuz in Schwesterntracht! »Einen Toast auf die Artillerie!«, sagte er dann, wobei er den vermeintlichen Sohn Samuel Thompsons scharf ins Auge fasste. »Oldershaw und die Siebente!«
Gowers leerte sein Glas in einem Zug.
Sie tranken stundenlang, auf alle Truppenteile und Regimenter, die Merriwell namentlich einfielen. Sie tranken auf die Verbündeten, auf die Türken und ihre Feldbordelle. Sie tranken auf die Huren und auf die Läuse der Huren.
»Davon hätte man
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