Tod auf Ormond Hall
Michelle stellte ihr Glas auf ein Tablett, das von einem Kellner vorbeigetragen wurde. "Ich wünschte, sie würde zu mir sprechen. Sie will mich warnen, da bin ich mir ganz sicher, aber wovor? Immerhin weiß ich inzwischen, dass Edward gefährlich werden kann." Die junge Frau erzählte Roger, wie Kevins Bruder schon zweimal versucht hatte, sie die Treppe hinunterzuzerren. "Andererseits könnte es natürlich auch sein, dass er mir damit nur deutlich machen will, wie überflüssig ich auf Ormond Hall bin."
"Bitte, seien Sie vorsichtig, Miss Bryant", bat Roger und blickte ihr in die Augen. "Ich könnte es nicht ertr agen, wenn
auch Ihnen etwas passieren sollte."
Michelle antwortete ihm nicht, obwohl seine Worte die Kälte vertrieben, die sie seit Tagen gefangen hielt. Sie spürte plötzlich, dass Kevin sie beobachtete. "Ich muss gehen", sagte sie. "So long!"
"Wenn ich etwas weiß, werde ich einen Weg finden, mit Ihnen in Verbindung zu treten", versprach Roger Nevins. "Bis bald." Er wandte sich in die entgegeng esetzte Richtung.
Michelle kehrte zu ihrem Verlobten zurück. "Die Welt ist doch klein", bemerkte sie. "Auf Schritt und Tritt trifft man Bekannte."
"Hattet ihr euch hier verabredet?“, fragte Kevin Ormond böse. Er umfasste Michelles Hand und drückte ihr dabei fast die Knöchel zusammen. "Wir fahren nach Hause."
"Ich glaube, du spinnst", flüsterte sie ihm zu. "Ich werde mich doch noch mit Mister Nevins unterhalten dürfen."
"Du scheinst immer wieder zu vergessen, dass Roger Nevins nicht zu den Leuten gehört, mit denen wir gesellschaftlichen Umgang pflegen", erwiderte ihr Verlobter. "Davon abgesehen, dass er ein Emporkömmling ist, hat er meine Familie mit Schmutz beworfen." Er führte Michelle zur Treppe. "Ich habe keine Lust, noch länger hier zu bleiben. Seine Anwesenheit vergiftet die Luft."
Michelle wollte jedes Aufsehen vermeiden, deshalb stieg sie widerstandslos mit ihm die Treppe nach oben. Schweigend gingen sie durch den Burghof zum Parkplatz. Erst als sie im Wagen s aßen, sagte sie: "Meinst du nicht, dass du dich lächerlich machst, Kevin?"
"Wieso macht sich ein Mann lächerlich, wenn er versucht, se ine Familie vor Schaden zu bewahren? Man weiß, wie wir Ormonds zu Roger Nevins stehen, aber du unterhältst dich in aller Öffentlichkeit mit ihm."
"Hast du auch Danielle mit haltlosen Vorwürfen gequält?“, fragte Michelle wütend. "Deine Eifersucht ist ja schon krankhaft. Vermutlich hast du sie damit erst in die Arme Mister Nevins' g etrieben."
Kevin umklammerte das Steuerrad so fest, als wollte er es ze rbrechen. "Treib es nicht zur Spitze, Michelle", warnte er eisig. "Spiel nicht mit meiner Liebe. Danielle ..." Er sprach nicht weiter, sondern steuerte den Wagen um eine Serpentine.
Michelle schloss die Augen. Sie glaubte wieder, Danielle über die Brüstung stürzen zu sehen. War es wirklich Edward gewesen, der die junge Frau gestoßen hatte? Sie erschrak. Wie konnte sie nur so etwas Furchtbares denken? Kevin mochte krankhaft eife rsüchtig sein, aber er war kein Mörder. Oder doch?
15.
Während der nächsten Tage, dachte Michelle unablässig darüber nach, wie Danielle wirklich ums Leben gekommen war. Edward konnte sich nicht wehren, besaß keine Möglichkeit, seine Unschuld zu beweisen. Sie sah Kevins älteren Bruder plötzlich in einem völlig neuem Licht. Vielleicht wollte auch er sie warnen.
Seit dem Abend in Raglan Castle begegneten sich Michelle und Kevin mit ausgesuchter Höflichkeit. Mehrmals dachte die junge Frau daran, Ormond Hall zu verlassen, aber der Wunsch herauszufinden, ob Danielles Tod ein Unfall gewesen war oder einer der Brüder sie ermordet hatte, überwog jede Vernunft. Z udem hatte sie sich trotz allem einen Rest Zuneigung für Kevin bewahrt. Sie wollte ihm nicht unrecht tun.
Aber die Zeit lief ihr davon. Es waren nur noch zehn Tage bis zur Hochzeit. Auch wenn Lord Richard und Lady Patricia spürten, dass es zwischen ihr und ihrem Sohn nicht zum Besten stand, sie verloren darüber nicht eine einzige Bemerkung. Beide schienen inständig zu hoffen, dass sich in den nächsten Tagen die Wogen wieder glätten wü rden.
An diesem Nachmittag ritt Michelle zur Llewellin-Kapelle. Roger Nevins hatte ihr durch einen der Stallburschen eine Nac hricht zukommen lassen. Sie hatte dem Jungen ein hohes Trinkgeld gegeben. Sie hoffte, dass er seinen Mund halten würde. Kevin brauchte nicht zu wissen, dass sie sich mit Roger traf. Es würde seine Eifersucht nur noch vertiefen.
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