Tod den alten Göttern
die angstgeweiteten Augen des Kindes und suchte es zu beruhigen. »Natürlich tue ich das. Du brauchst nichts
zu fürchten, Junge. So wahr ich hier stehe.«
Der Junge sank in seine Arme. Im gleichen Moment ging die Tür der Schenke erneut auf, und ein großer dunkler Mann torkelte
heraus. Er hielt einen Lederriemen in der Hand und stierte finster in die Runde. Dann entdeckte er den Jungen und kam wankend
und mit einem triumphierenden Grinsen auf ihn zu. Kein Zweifel, er war betrunken.
Caol hielt ihn mit der Schwertspitze auf Abstand und fragte ihn nach seinem Begehr. Eadulf erkannte ihn sofort und flüsterte
Fidelma zu: »Es ist der Kaufmann. Verbas von Peqini.«
Sie betrachtete ihn missmutig.
Verbas sah von einem zum anderen und fuchtelte nicht länger mit dem Riemen herum. Stattdessen umfing er alle mit einem öligen
Lächeln und sagte etwas in fremder Zunge. Eadulf hatte sich derweil einen Eindruck vom Zustand des Jungen verschafft.
»Gesicht und Arme des Kindes sind arg zugerichtet«, sagte er zu Fidelma.
Aufgrund des Blickes, den sie über den Burschen gleiten ließ, schien Verbas zu erraten, wovon Eadulf gesprochen hatte. Er
sah sie gleichgültig an und murmelte ein paar für sie unverständliche Sätze.
»Der Junge ist sein Sklave und muss für ihn dolmetschen«, erläuterte Eadulf.
Fidelma hatte bereits den Metallring um den Hals des Knaben bemerkt und fragte verstimmt den Kaufmann auf Latein: »Welche
Sprache sprichst du? Verstehst du, was ich sage?«
»Ja, einigermaßen.«
Die Auskunft überraschte Eadulf. Als er auf dem Markt in Tara das erste Mal mit Verbas zu tun gehabt hatte, war er überhaupt |347| nicht auf die Idee gekommen, dass der vielleicht Latein könnte. Dabei war es einleuchtend. Das Römische Reich hatte einst
seine Sprache überall in der Welt, soweit sie damals bekannt war, als Handelssprache verbreitet und keineswegs nur als Sprache
der erobernden Legionen. Kein Wunder also, dass Kaufleute sich ihrer bedienen mussten, wollten sie ihre Geschäfte erfolgreich
betreiben.
»Was geht hier vor? Weshalb misshandelst du das Kind?«, wollte Fidelma wissen.
»Wer erlaubt dir, solche Fragen zu stellen?«, konterte Verbas verächtlich. »Ich bin es nicht gewohnt, dass Frauen mit mir
in diesem Ton sprechen.«
»Ich bin Fidelma von Cashel, Rechtsanwältin und Schwester des Königs«, erwiderte sie und hatte ihre Mühe, die richtigen Begriffe
auf Latein zu finden, um Rang und Würden entsprechend klarzustellen.
»Du hast in dem Land etwas zu sagen?«, fragte er erstaunt.
»Ja.«
»Dann wisse, Lady, der Junge hier ist mein Sklave. Er wollte mir entfliehen und hat versucht fortzulaufen. Ich bin per Gesetz
befugt, ihn einzufangen und zu züchtigen. Sein Leben gehört mir, ich kann mit ihm tun, was ich will. Ich habe ihn gekauft.«
Assíd hatte inzwischen Eadulf wiedererkannt und erinnerte ihn an das Gespräch auf dem Markt in Tara.
»Herr, es hat damals geheißen, wenn es mir gelingt zu fliehen, würde ich in diesem Land Aufnahme finden. Ich bin geflohen
und bitte um Asyl. Der Fürst in Tara hat es versprochen.«
»Das stimmt, er hat es dir versprochen«, bestätigte ihm Eadulf.
»Du sprichst unsere Sprache erstaunlich gut, Junge«, wandte sich Fidelma ihm zu. »Wie heißt du?«
|348| »Assíd, Lady.«
»Assíd? Das ist bei uns ein uralter Name. Einer der Vorfahren von einem Stamm aus Connacht hat schon so geheißen, Jagdhund
des Meeres nannten sie ihn. Stammst du von hier?«
»Das weiß ich nicht, Lady. Ich weiß nur, dass ich hier bleiben möchte.«
Eadulf erklärte rasch, was der Junge schon zuvor gesagt hatte, und auch, was ihm Cenn Faelad versprochen hatte, sollte ihm
die Flucht gelingen.
Fidelma nickte nachdenklich, während es Verbas, der dem in der Sprache von Éireann geführten Wortwechsel nicht hatte folgen
können, langsam ungemütlich wurde.
»Der Junge ist mein Eigentum, ehrlich erworben«, wiederholte er auf Latein. »Er hat versucht, mir zu entkommen, und ich habe
das Recht, ihn zu bestrafen. Ich werde ihn jetzt mit auf mein Schiff nehmen.«
Mit diesen Worten machte er einen Schritt nach vorn, doch Fidelma wies ihn zurück. »Auf diesem Boden gelten für dich die Rechte,
wie sie dir gemäß unserer Gesetzgebung zustehen. Und unserem Gesetz nach genießen Kinder einen besonderen Schutz, ihr Ehrenpreis
ist nicht geringer als der eines Bischofs, und das gilt bis zu ihrem Mündigwerden, was hierzulande mit siebzehn geschieht.
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