Tod den Unsterblichen
Jahrhunderten, und ohne sie wären wir verloren, dem Zufall preisgegeben, ein statistisches Chaos. Aber wir sind gefährliche Kinder, so daß sie geheim bleiben und diejenigen sterben müssen, die etwas ahnen …
Er zerknüllte wütend das Papier. Er hatte fast alles verdorben! In seiner Eitelkeit hätte er fast das Geheimnis enthüllt, zu dessen Schutz er im Begriff war zu sterben. Er grapschte auf dem Boden nach der Liste der Möglichkeiten, hielt aber gebückt inne und starrte den Boden an.
In Wirklichkeit konnte er eigentlich keinen von ihnen leiden.
Er setzte sich auf und schenkte sich traurig noch ein Glas ein. Er konnte sich nicht auf sich verlassen, daß er gute Arbeit leistete, sagte er sich. Wenn er sich zum Beispiel die Pulsadern durchschnitte, könnte jemand kommen, und was wäre peinlicher, als auf einem Operationstisch mit genähten Adern zu erwachen und die verdammte Sache von vorne anfangen zu müssen?
Er stellte fest, daß sein Glas schon wieder leer war, nahm sich aber nicht die Mühe, es nochmals zu füllen. Er fühlte, daß er schon genügend Alkohol intus hatte. Wenn nicht seine eigene verflixte Unzulänglichkeit gewesen wäre, hätte er sich recht wohl fühlen können, denn es war schön zu wissen, daß er in sehr kurzer Zeit den besten Belangen der Welt diente, indem er starb. Sehr schön … Er stand auf und trat strahlend ans Fenster. Draußen wimmelte immer noch die Menschenmenge herum, um in der Universitätsklinik geimpft zu werden; arme Kerle, er hatte es so viel besser als sie! »Wenn man die zweiten, dritten, fünften Zahlen streicht«, sang er. »Hat man das Sieb – He!«
Er hatte eine Idee. Wie herrlich war es, dachte er dankbar, in einer solchen Zeit wie dieser auf die weise hilfreiche Hand eines älteren Freundes zurückgreifen zu dürfen. Er brauchte sich nicht den Kopf zu zerbrechen, wie er sterben sollte und ob er es verpfuschte. Er brauchte St. Cyr und den anderen doch nur eine Chance zu geben. Sich entspannen … schläfrig werden … vielleicht noch etwas betrunkener werden. Sie würden schon das übrige besorgen.
»Das Sieb des Eratosthenes erreicht«, sang er fröhlich. »Vielfache muß man so vertreiben: Primzahlen werden übrigbleiben!« Er torkelte zu seinem Bett und warf sich der Länge nach darauf.
Kurz darauf stand er wütend wieder auf. Das war nicht fair. Warum sollte er, wenn es ihm schwerfiel, in seinem Zimmer eine geeignete Todesart zu finden, diese Schwierigkeit auf seinen guten Herrn und Gebieter St. Cyr abwälzen?
Er war deswegen richtig böse auf sich; aber nachdem er die Flasche ergriffen hatte und singend auf den Korridor getaumelt war, um nach einem geeigneten Ort zum Sterben zu suchen, ging es ihm allmählich immer besser.
Sergeant Rhame prüfte die Barrikaden vor dem Lager der Ureinwohner und ließ seine Männer zurück, um die Menschenmenge vor der Universitätsklinik möglichst im Zaum zu halten. Während der ganzen Zeit, in der seine Männer daran gearbeitet hatten, versuchten die Ureinwohner, in ihrem Pidginenglisch mit ihnen zu reden, aber die Polizisten waren zu beschäftigt. Der einzige, der einigermaßen englisch sprach, Masatura-san, war in seiner Hütte; die anderen waren kaum zu verstehen. Rhame schaute auf seine Uhr und entschied, daß er sich schnell eine Tasse Kaffee gönnen könnte, ehe er seinen Männern mit der Menschenmenge half. Obwohl es, dachte er, vielleicht humaner wäre, die Menschenmenge in Ruhe zu lassen, damit sie sich zur Hälfte zu Tode quetschte. Das ginge wenigstens schnell. Denn der Gerichtsarzt hatte ihm vertraulich mitgeteilt, daß die Impfungen wirkungslos blieben … Er drehte sich erstaunt um, als eine Mädchenstimme ihn rief.
Es war Locille, die weinte. »Können Sie mir nicht bitte helfen? Cornut ist verschwunden, und mein Bruder ist tot, und – das habe ich gefunden.« Sie hielt ihm Cornuts säuberlich niedergeschriebene Liste der Selbstmordmöglichkeiten hin.
Die Tatsache, daß Rhame von seinen Computerstudien abgeordert worden war, um eine aufgebrachte Menschenmenge im Zaum zu halten, bewies zur Genüge, wohin er eigentlich gehörte; aber er zögerte und wußte weder aus noch ein. Individuelles Elend war wesentlich überzeugender als Massenpanik. Er stellte die notwendigen Fragen: »Wo ist er? Keine Ahnung? Kein Zettel? Irgendwelche Zeugen, die ihn vielleicht fortgehen sahen? … Sie haben nicht gefragt? Warum …« Aber er hatte keine Zeit zu fragen, warum sie keine Zeugen gefragt hatte; er
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