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Tod Eines Kritikers

Tod Eines Kritikers

Titel: Tod Eines Kritikers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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verpflichtet, das wisse ich ja. Aber den dunklen Rändern unserer Existenz humanes oder wenigstens anthropologisches Potential abzugewinnen sei des Schweißes eines Edlen wert. Und heller als ich habe über die in uns beheimateten Dunkelheiten niemand geschrieben.
    Ich bin ihm und der Schwester nicht wegen dieses deutlich zu dick aufgetragenen Lobs verfallen. Im Gegenteil. Die Portion Anerkennung, die er mir verpaßte, empfand ich als das Zweckrationalste in seinem ganzen Auftritt. Beide hatten sich übrigens auf meine vage einladende Handbewegung hin aufs Sofa gesetzt, allerdings so weit wie möglich auseinander. Ich saß ihnen also gegenüber. Sie lobte den Tee. Er beendete deutlich das, was Vorrede gewesen sein sollte, dann fing er an. Zeitweise saßen da zwei Vögel auf dem Sofa. Lange Hälse, schmalste Gesichter, ruckartige Kopfbewegungen, große Augen, seine Hände wie sich entfalten wollende Flügel. Sie anwesend mit der sanften Betulichkeit, die man bei Vogelweibchen beobachten kann, am meisten bei Enten. Dazu habe ich ja fünf Minuten vom Haus, am Nymphenburger Kanal, reichlich Gelegenheit.
    Er trug dann vor, was ich dem Inhalt nach schon durch den Professor und durch Julia erfahren hatte. Aber er trug es beteiligter vor. Und redete sich trotz aller Beherrschtheit in eine Verurteilung Ehrl-Königs hinein, die vor nichts Halt machte. Hat er das beabsichtigt? Ist es ihm passiert? Ich weiß es nicht. Alles, was er vortrug, wurde durch die Art, in der er es vortrug, sozusagen beschädigt, aber eben dadurch glaubhaft. Er selber war beschädigt, verletzt, beleidigt, gedemütigt! Das drückte sich in allem aus. Man spürte, warum er so reden mußte. Manchmal klang es, als rede da einfach ein Feind Ehrl-Königs, der viele Jahre lang hatte warten müssen auf den Augenblick, in dem er zu Wort kommt. Aber er fand auch immer wieder zurück zu einer Bewunderung für den, gegen den er da redete. Er ging nie unter im bloßen Geschimpfe. Dafür sorgte schon streng seine Schwester. Mit ihrem rechten Zeigefinger, der so lang war wie ihr Mittelfinger, und der war sehr lang. Sie dirigierte eigentlich seinen Vortrag, als sei er ein Orchester. Ein Orchester der Tonlosigkeit allerdings. Aber was er bei unbehebbarer Tonlosigkeit seiner Stimme aus seiner Kehle an Ausdrucksunterschieden herauswirtschaftete, war erstaunlich. Ich dachte an sein erfolgreichstes Buch Jesus von Nazareth, Politiker. Ich würde es lesen. Lassen Sie sich durch mich nicht gegen Ehrl-König einnehmen. Sie haben kein Recht, gegen ihn zu sein. Ihnen hat er nichts getan. Vor allem: er hatte ein Recht zu sein, wie er war.
    Von allen um- und durcheinanderlaufenden Legenden und Histörchen stimme am genauesten alles über die Mutter, die große Dame, die gebe es so, wie er, RHH sie bekannt gemacht habe. Eben einhundertdrei Jahre alt geworden. Aber schon, daß sie wirke wie entworfen von Klimt plus Stefan George sei sein Einfall, den Ehrl-König fort und fort benutze als Verehrungsformel für diese unentbehrliche Backgroundbelezza. Der Vater, auch der stimme, Bankier in Nancy, schon lange tot, aber eben eine schauderhafte Ungestalt, klein, dicklich, große rote Ohren, die Mutter hat er, als sie siebzehn war, geschwängert, sie aber, so der Meister, sei mit achtzehn aus dem Kindbett aufgestanden als eine Dame, und die sei sie geblieben. Ihren Sohn hat sie immer verachtet. Sagte der Sohn. Weil er aussah wie sein Vater. Für den habe er, RHH, um der Unterhaltung willen, auch kursieren lassen, daß der ein lothringischer Pferdehändler gewesen sei, der sechzehn Sprachen fließend gesprochen habe. Wozu dann eben gepaßt habe, daß er die Siebzehnjährige vor dem Schwängern aufs Pferd gesetzt habe. Ehrl-König verehrte seine Mutter, und er haßte sie. Er haßte sie, weil er sich verurteilt fühlte, sie, die ihn verachtete, zu verehren. Jeder kenne die Photos, auf denen er mit fünfzig, sechzig und siebzig Jahren an ihrer Seite steht. Sie, die große schöne, wie erfunden schöne Dame, er, der rundliche Kleine, dem mit sechzig plötzlich die vorher schon weißen Haare ausgingen, die er immer lang getragen und im Nacken zusammengefaßt gehabt habe. Und die großen roten Ohren vom Vater. Im Fernsehen wurden die vor jedem Auftritt blaßgepudert. Ehrl-König selber sagte übrigens, daß seine Haltung auf den Photos mit seiner Mutter bewußt gewählt sei. Die Leute, die spotteten, daß er da wie ein Behinderter oder wie ein bösartiger und doch bedauernswerter

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