Tod Eines Kritikers
etabliert gewesen, hätte die Stadt München dieses Archiv unter die Sehenswürdigkeiten aufnehmen können und Besucher aus der ganzen Welt hätten sich andauernd über seine siebzehntausend Zettel gebeugt. Auf denen, so RHH, erbärmlich wenig zu finden sei. Er, RHH, habe, vor dem Bruch diesen Plan bekämpft. Genau so wie sie, Julia Pelz-Pilgrim. Und zwar ganz offen habe er da gekämpft. Der Meister habe nämlich schon im Vorgefühl des Gelingens – und wann wäre ihm je etwas nicht gelungen – verfügt, daß Ilse-Frauke von Ziethen Archivdirektorin des Ehrl-König-Archivs im Haus PILGRIM werde. Und eben deshalb habe er, RHH, in Frau Pelz-Pilgrim eine Bundesgenossin gesehen. Seine Schwester, ohne die er auf der Baldsburg weder Tage noch Nächte verbringen könnte, wäre ihm entzogen, entführt worden, herab von der Baldsburg, in der sie innig und alles überblickend geistreich hausen, hinein ins ödeblödeschnöde München. Und das hat Frau Pelz-Pilgrim verhindert. Dafür sei ihr sein ewiger Dank sicher. Aber für Ehrl-König ist sie seit dem casus belli. Das sagt er ihr freimütig. Und wie gesagt, er darf’s. Denn er ist, wie jetzt schon jeder wisse, nicht mehr Ehrl-Königs Freund. Jetzt werde sich zeigen, was Ehrl-König ohne RHH sei. Er sei selber gespannt. Eigentlich halte er Ehrl-König ohne ihn, RHH, für weniger als ein Schemen.
Jetzt habe dieser wangenlose fadenscheinige Dünnling losgelegt. Und es kam heraus, was man ahnte, fast wußte, und doch nicht glaubte. Der Gerüchtedschungel, in dem Ehrl-König prachtvoll und unfaßbar herumtigerte, war seine, RHH’s, Schöpfung. Allerdings im Auftrag Ehrl-Königs. Aber erfunden, in die Welt gesetzt und andauernd durch phantastisch genaue Produktionen am immer wieder sich steigernden Leben gehalten nur durch RHH. Natürlich seien die Gerüchte, die er habe kursieren lassen, alles andere als frei erfunden gewesen. Er habe die Gerüchte immer aus intimer Kenntnis und genauer, geduldiger Beobachtung gewonnen. Besonders habe er es genossen, wenn etwas kursierte, was er in Umlauf gesetzt habe, was überhaupt kein Gerücht sei, was aber behandelt wurde wie ein Gerücht, jeder erzählte es weiter, jeder glaubte, es sei eine typische Ehrl-König-Dekoration, in Wirklichkeit sei es aber nichts als die fast reine Wahrheit gewesen. Die reine Wahrheit natürlich nie. Die Medien sind wahrheitsimmun. Schönstes Beispiel: Ehrl-König schreibt nebenher unter dem Namen Siegfried Lerner klassizistische Gedichte, vor allem Sonette, sieben Bände dieser Lyrik seien in einem Tessiner Verlag erschienen, in Leder. Erschienen eigentlich nicht. Schönstens gedruckt, Ausstattung historisch, á la Bremer Presse, aber unter Verschluß gehalten, vorerst. Frau Ehrl-König, die zigarrenrauchende Madame, zwinge er, alle seine klassizistischen Gedichte ins Französische zu übersetzen. Verhandlungen mit Gallimard seien im Gange. Das halte jeder für ein polemisches Gerücht, das sei aber Wort für Wort wahr. Ehrl-Königs innigster Wunsch sei es nämlich, daß seine von der Madame ins Französische übersetzten und in Paris publizierten Gedichte dann von Hans Magnus Enzensberger ins Deutsche übersetzt werden würden. Und dann – die Krönung – seine Selbstpreisgabe mit der Triumphnachricht: seine deutschen Originale seien besser als Enzensbergers deutsche Übersetzungen. Die Gedichte sind allerdings denen von Karl Kraus ähnlich. Er, RHH, spreche als verstummter Lyriker, verstummt, weil seine Ansprüche zu hoch seien, aber verstummt auch, weil die Erde bald von ihren Verwüstern verlassen werde, und zwar ohne Lyrik im Gepäck, und verstummt aus hoch historischem Opportunismus, weil er seine ganze Empfindungsfähigkeit dem Dasein der Spinnen verschrieben habe, weil das die Wesen sind, die diese Erde dann endgültig beherrschen werden, also er dürfe sich für Lyrik kompetent fühlen, André leistet wie Karl Kraus als Lyriker Zuckerbäckerarbeit, Wortkonditorei mit Spritzgußtechnik.
Nun sei aber endlich zu gestehen, daß er, RHH, ohne die Mitarbeit der ganzen Gesellschaft seinen Gerüchtedschungel nicht betreiben könnte. Jedes Legendchen, das er in Umlauf gesetzt habe, sei wild aufgeblüht, habe sich vermehrt, manchmal habe er, was er in die Welt gesetzt habe, selber nicht mehr wiedererkannt.
So habe der wangenlose Dünnling geredet, mit säbelnden Händen und löchriger Stimme. Warum er das ihr erzähle, habe sie gefragt. Wir sind Verbündete, habe er gesagt, und sollten das wissen. Vielen
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