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Tod Eines Kritikers

Tod Eines Kritikers

Titel: Tod Eines Kritikers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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zurichten. Und die forensische Psychiatrie wohnt nicht in sanften Sanatorien. Sagte er und schüttelte mir die Hand, als kondoliere er mir. Ich komme zu jeder Verabredung zu früh, weil ich es nicht ertrage, zu spät zu kommen. In Haar also, weil es kalt war, noch in die Bahnhofwirtschaft. Nichts als schmutzig. Scheiben, durch die man schon lange nicht mehr hinaussieht. Eine Luft, die man nicht atmen möchte. Musikboxlärm. Ein einziger Gast. Und der am Spielautomaten. Fixiert auf einen wandernden Lichtpunkt. Die Bedienung bewegt sich wie in einem Alptraum. Wenn sie dann tatsächlich vor einem steht, schafft man es gerade noch, aufzuspringen, hinauszurennen, bevor sie fragen kann, was man wolle.
    Es war ein langer Marsch von der Hauptpforte bis zu Nummer 21, diesem ins Waldwiesengelände gebauten Flugzeugträger aus Beton. Betonwände, mindestens sechs Meter hoch, oben drauf noch Stacheldrahtspiralen. Das heißt also die Burg . Eine Tür ohne jede Aufschrift. Aber ein Hinweis, der einen leiten kann. Man läutet, zwei Meter nach der Tür steht man vor einem Gebäude, wieder eine Tür, elektronische Schleuse, alles abgeben, bis auf das Taschentuch und zwei Zigaretten. Im Sprechraum zirka zehn Plexiglassprechstellen, man spricht in ein Sieb, schaut am Sieb vorbei den da drinnen an, hinter dem sitzt ein Pfleger. Der da drinnen war Hans Lach. Mit einer Handbewegung stellte er den, der hinter ihm saß vor: Pfleger eins, genannt die Naturkatastrophe. Ich roch seinen verrauchten Atem durch das Sieb. Bevor wir sprechen konnten, empfing der Pfleger eine Nachricht, stand auf, sagte etwas zu Hans Lach, der sagte: Oh. Bis gleich. Auch zu mir kam einer im weißen Mantel, stellte sich vor: Dr. Swoboda. Und nahm mich mit. Er habe mir nur einmal zeigen wollen, wie der Normalverkehr mit denen ablaufe, die den Paragraphen 63 schon hätten oder drauf und dran seien, ihn zu bekommen. Meinen Frageblick beantwortend: Gemeingefährlich. Als ich sagte, wie mir diese Betonfestung vorkomme, sagte er: Die Mauern um dieses Haus gefallen keinem von uns. Er sage immer: Diese Mauern hat die Presse gebaut. Wenn einer abgehauen ist, ging’s los: Geistesgestörter Krimineller entflohen! Das seien immer Leute gewesen, mit denen er jede Nacht durch jeden Wald gegangen wäre. Jetzt entflieht keiner mehr. Jetzt stehe in der Zeitung, das sei eine alle menschliche Empfindung vernichtende Mauer. Er habe hier zweiundsiebzig Patienten, früher hätte man gesagt, Psychopathen, dürfe man heute nicht mehr sagen, Geisteskranke eben, Nervenkranke, Charakterneurotiker. Mehr als fünf bis zehn Minuten pro Patient schaffe er nicht. Der Gesetzgeber habe da wieder einmal Gesetze geschaffen, aber nicht dafür gesorgt, daß man die Gesetze praktisch umsetzen könne …
    Da waren wir in seinem Arbeitszimmer angekommen. Hans Lach sei einer, der heroben bleiben dürfe. Die anderen arbeiteten tagsüber unten, im Keller. Steckkontakte zusammensetzen. Die meisten ziehen das vor, man ist doch in Gesellschaft.
    In seinem Zimmer gibt es zwei Sessel, ein Sofa, ein Tischchen und in der anderen Ecke seinen Schreibtisch. Zuerst muß man die großen, eigentlich schon riesigen grellfarbigen Bilder anschauen, die die Wände bedeckten, den Raum beherrschten, Kinderbilder, so vergrößert, daß die Zwei- bis Dreijährigen alle fast in Naturgröße von den Wänden lachten und winkten. Vielleicht sind es zweimal Zwillinge. Auf einem Bild haben die Kinder goldene Flügel auf dem Rücken und posieren so, daß man sieht, sie sollten die kleinen Engel am unteren Rand der Raffael-Madonna darstellen. Herr Dr. Swoboda ließ mich schauen, lachte dann und sagte, ein bißchen Glückskulisse könne bei den Therapiesitzungen nicht schaden. Und die Kinder seiner Schwester seien doch wirklich Glückskinder. Ich nickte heftig. Er hörte fast jäh auf zu lachen. Er hat auffallend große, andauernd die Lippen zurücklassende Zähne. Der könnte einen beißen, dachte ich. Wenn er wollte. Aber er wollte mir Hans Lach erklären. Hans Lach wird ein Frustrationskontingent zugemutet. Das muß er auf sich nehmen. Wir müssen ja auch Sachen machen, die wir nicht machen wollen.
    Der Doktor hat so kleine Hände, daß ich glaubte, die seien seit seinem elften Lebensjahr nicht mehr mitgewachsen. Die Nägel abgekaut. Kein Wunder, bei diesen Zähnen. Er hat eine Sprachschwierigkeit, die er aber beherrscht. Therapie!
    Also Hans Lach, sagte er. Vielleicht hat der gestanden, um endlich in Ruhe gelassen zu werden.

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