Tod Eines Kritikers
sich siebzehn Wetter darum stritten, den Ausschlag zu geben, mein Zustand sei der der Haltlosigkeit. Wer mich am meisten schütze, der habe mich. Zur Zeit. Und das sei jetzt Julia. Ich versprach Erna, immer wieder anzurufen. Da sie sich so gefaßt gab, war ich vor Dankbarkeit fast bestürzt. Aber weil ich Angst hatte, sie werde die Fassung gleich wieder verlieren, ließ ich das Gespräch schnell enden.
Jeden Abend rief Julia an. Ich reagierte, bevor wir mit einander sprachen, jedesmal mit einem Freudenausbruch. Ich schüttete mich förmlich hin vor sie. Mir war danach. Ich wunderte mich selbst über mich. Ich glaubte mir eigentlich nicht, was da aus mir herausdrängte, aber gleichzeitig erlebte ich, daß ich mich gern so hemmungslos erfreut und selig reden hörte. Jedesmal pries ich ihre Stimme. Gratulierte ihr dazu, daß sie ihre Stimme, egal was die gerade zu sagen hatte, nach Belieben ins bloß noch blank Hohe oder ins einnehmend Tiefe dirigieren konnte. Das wirkte auf mich als Kraft pur. Mir fehlte nichts so sehr wie Kraft. Übermut, das war es, was dieses willkürliche Hin und Her zwischen Sopran und Alt ausdrückte. Nichts als Übermut. Nichts als Ichkannmachenwasichwill. Nichts als Ichbinderfreiestemenschderwelt. Nichts als Ichbindiereinekraft. Und sie ließ mich spüren, daß sie mit mir mehr vorhatte, als sie aussprach. Ihr William Blake konnte ich wohl nicht werden. Irgendeinen trivialen Satanismus konnte sie auch nicht planen. Unsere geschlechtliche Praxis verlief ganz unter ihrer Regie. Sie bezeichnete mich da als Entwicklungsland. Das war mir recht. Sie war eine Virtuosin, die verbergen konnte, daß sie eine war. Sie war eine Anfängerin-Virtuosin. Nichts sollte wie Routine wirken. Sie tat alles, als tue sie’s zum ersten Mal. Man wußte, daß das nicht sein konnte, aber ich war bewegt von diesem Willen, alles erscheinen zu lassen, als komme es nur dadurch zustande, daß sie und ich uns getroffen hatten. Sie machte aus uns Zweien etwas Einmaliges. Ich wußte, daß das nicht sein konnte. Aber ich glaubte, daß es so sei. Und ihr Körper war eine Art saturnisches Mirakel. Sie schien seit etwa ihrem vierzigsten Jahr keinen Tag älter geworden zu sein. Und dieses vollkommene Erhaltensein wurde durch die Art, wie sie es praktizierte, lebte, zur Intensität, zur Enthobenheit, zur Schönheitskunst.
Nach unseren Telephongesprächen lag ich immer lange wach und hörte den Geräuschen zu, die der Wind hier mit den härteren Blättern vollbrachte. Kein Blätterrauschen wie in der Böcklinstraße, sondern ein Klappern und Kratzen und Poltern. Aggressiv. Besonders was an den Hauswänden hochwuchs, wurde laut. Lauter als fünfzig Meter unter uns das Meer. Ein Komponist hätte diesem Angebot kaum widerstehen können.
Zum Glück blieb Julia nie länger als zehn Tage in München. Ohne sie war ich nichts als haltlos. Ich hätte telephonieren können ohne Ende. Mit jedem und jeder. Und jedem und jeder das sagen, was der oder die von mir hören wollte. Ich war sozusagen ein Nichts. Julia war der einzige Mensch, mit dem ich über meine Haltlosigkeit sprechen konnte. Und zwar ohne Rücksicht auf sie oder mich. Und sie konnte mit mir über ihre saturnischen Tendenzen sprechen wie mit niemandem sonst. Sagte sie. Wir hörten einander so zu, daß das Sagen für beide zur Erfahrung wurde, zur Selbsterfahrung.
Als sie vom zweiten München-Ausflug zurückkam, brachte sie eine Zeitung mit einer Todesanzeige mit. Mani Mani. Und eine Zeitung, in der der Tod gemeldet wurde als Sprung von der Großhesseloher Brücke. Das war die Brücke, unter der er seine Gedichte verbrannt hatte. Und einen Brief brachte sie, von Mani Mani an mich, adressiert an den PILGRIM Verlag. Als eine Art Überschrift stand da: Abschiedsbrief. Ich las ihn Julia und mir vor:
Lieber Meister, Sie sind abgehauen, ich haue auch ab, stellvertretender Selbstmord, die echoträchtigste Lösung. Sie sollen es nicht krumm nehmen, daß Sie nicht zu meinen Vorbildern zählen. Sie nehmen’s krumm, ich weiß, aber meine Vorbilder sind unverrückbar. Dergleichen folgt der Sternstundenzeit, klick, ein für alle Mal. Bernt Streiff ist mir Vorbild nur mit der Tulpen Trilogie. Nur da gelingt es ihm, die Welt im Ornament verschwinden zu lassen. In Ihren Kreisen, (literarischen) killt das den Erfolg. Bei mir heimst er Triumph ein. Vielleicht ein keltisches Erbe, die Welt im Ornament verschwinden lassen. Die Welt ist alles, was der Phall ist. (Von wem ist jetzt das schon
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