Tod eines Träumers (Vera-Lichte-Krimi) (German Edition)
Ziel seines Lebens grübelte.
Zu wenig zu tun. Zu viel Zeit nachzudenken.
Es half ein wenig, dass er bei jeder kleinen Geschichte eine zweite Kamera nur für seine Zwecke bei sich trug. In den guten alten Kartons von Ilford große Abzüge in Schwarzweiß sammelte, auf die er stolz sein konnte.
Nick war ein Träumer.
Vielleicht glaubte der eine und andere, der flüchtig hinsah, dass die verwöhnte Vera Halt an ihm fand. Nick konnte im Fall des Falles nach dem richtigen Schraubenschlüssel greifen. Kaputtes reparieren. Tannenbäume abseilen.
Er konnte die Welt erklären. Den Boden berührte Vera.
Die Fotografien, auf denen er gestern Abend das Leben der Kirmes eingefangen hatte, würden was Besonderes sein.
Das ahnte Nick. Wenn er auch noch nicht wissen konnte, warum. Die Gesichter. Die Karussells. Die Buden.
Vor allen Dingen die Gesichter. Viele. Der Dom war voller Menschen gewesen. Der klare Himmel, in dem sich trotz der Lichter des Doms Sterne erkennen ließen. Belebende Kälte, die einen nicht gefrieren ließ, sondern Freude haben am Glühwein und den kurzen Gläsern mit Kümmel.
Nick hatte ein Glas getrunken und an Anni gedacht, die eine ganze Flasche Helbings Kümmel auf das Grab ihres Vaters in Lettland geleert hatte. Annis Aufschrei im vergangenen Frühling, als er die Speisekammer aufgab.
Kümmel über Gräber gießen, davon erzählte sie gern. Doch eine Speisekammer leer zu räumen, um sie zu verdunkeln und Abzüge durch die Flüssigkeiten dreier Schalen zu ziehen, das hielt Anni für verrückt.
Nick setzte die Espressokanne auf die Herdplatte und schnitt eine Scheibe vom Vollkornbrot ab, das er eben eingekauft hatte. Das Brot war noch warm, Vielleicht würde er schon nach dem Frühstück daran gehen, die Filme zu entwickeln. Am Nachmittag käme er kaum dazu, dann zogen er und Vera mit Laternen umher und sangen das Lied vom Sankt Martin für Nicholas und die Krabbelkinder. Er hoffte, dass er das nur auf Veras langem Flur tun musste und nicht auf der Straße.
Wenn einer verrückt war, dann Anni.
Er nahm die Kanne vom Herd, als sie zu brodeln aufhörte, und goss sich ein. Aß das Brot, trank die Tasse leer und ging in die Dunkelkammer. Der erste Film. Der Kontaktabzug.
Das Kettenkarussell. Die Losbuden. Das Hippodrom.
Die Gesichter noch nicht nah. Nur einmal das verkniffene Gesicht eines Losverkäufers, der ihm das Blecheimerchen mit den Losen vor die Linse hielt.
Nick kam nicht weit an diesem Vormittag.
Das Telefon klingelte in der Tasche seiner Strickjacke.
Er hatte gar nicht mehr daran gedacht, es da hineingetan zu haben. Der Herr Hauptkommissar klang eher gedämpft als aufgeregt. Doch er bat Nick, gleich zu kommen.
Dein Fotografenauge auf was werfen, sagte er.
Nick ging in die Küche und trank den kalt gewordenen Kaffee aus, der noch in der Kanne gewesen war.
Gut, dass er sich nur einen Film vorgenommen hatte.
Er neigte dazu, die schwarzweißen Filme nicht alle auf einmal zu entwickeln, um es länger auszukosten.
Vielleicht lebte er ja auch sein Leben so.
Nur mit dem Auskosten sollte er endlich anfangen.
»Hat sich überschnitten«, sagte Pit, »die Veröffentlichung in der Zeitung und die Vermisstenanzeige von den Dänen.«
Er legte zwei Farbabzüge auf den Tisch. Die roten Haare.
Die vielen Sommersprossen.
Das Gesicht war aus einem Schnappschuss kopiert.
Der Schnappschuss war wie der Ausschnitt auf dreizehn mal achtzehn gezogen worden. Ein Junge in Shirt und Jeans vor einem Holzhaus stehend. Das Rot des Hauses stach sich mit dem Rot der Haare. Doch das störte nur Nick.
»Wenn er es ist, dann war er erst neunzehn«, sagte Pit.
Das Zeitungsbild war zu klein, um wirklich was zu erkennen. Vermutlich hatte der verantwortliche Redakteur den Lesern keinen Toten in großem Format zumuten wollen.
Wenn der Kopf den Kripoleuten auch gut erhalten erschienen war, mochten weniger geübte Betrachter das anders sehen.
»Was glaubst du? Ist das Age aus Gilleleje?«
Nick nahm Pit die Lupe aus der Hand.
»Ich dachte, Gilleleje sei in Schweden«, sagte er.
Pit seufzte. »Gibt es auch in der Nähe von Kopenhagen«, sagte er. Gilleleje war nicht sein Problem.
»Ich denke, dass er es ist. Was sagen denn eure Experten?«
»Darauf warte ich jetzt nicht. Ich wollte es wissen, ehe ich zu dem Hausmeister gehe, der diesen Jungen ja wohl schon bei Leben und Gesundheit gesehen hat.«
»Warum hast du es so eilig? Er kann dir die Identität auch nicht eindeutig bestätigen.«
»Ich will, dass du
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