Tod eines Träumers (Vera-Lichte-Krimi) (German Edition)
gelebt hatte.
»Der Arzt hat ihr nicht helfen können?«
»Kein Arzt«, sagte die kleine Alte, »all das viele Blut.«
Gerry setzte zu sprechen an. Er hatte einen Kloß im Hals.
»Nimm noch Saft«, sagte Elslein und nahm die Tüte.
»Ich bin nicht vor hundert Jahren geboren worden«, sagte Gerry, »und nicht in einem abgelegenen Dorf. Da hätte doch Hilfe kommen können.«
»Das wollten sie nicht. Wegen der Schande.«
Elsleins Stimme war klein geworden. Kaum hörbar.
»Sie haben meine Mutter verbluten lassen?«
Die kleine alte Frau nickte. »Dann konnte das Mädchen ihnen nicht in die Quere kommen«, sagte sie.
»In die Quere?«
»Die wollten doch ihren Liebsten töten«, sagte Elslein.
Gerry schwieg eine Weile, bis es ihm gelang, der kleinen Alten die nächste Frage zu stellen.
Hatte er das alles fotografiert? Nick erinnerte sich kaum.
Eine Traumwandlerei, diese Fotografien.
Er saß auf dem Hocker, der gerade noch hineinpasste in die Dunkelkammer, und setzte die Lupe auf den Kontaktbogen. Nick hatte alle Filme entwickelt, die er auf dem Winterdom gemacht hatte. Viele Gesichter. Eines kannte er.
Gerry. Auf den ersten Blick kaum zu erkennen. Die dicke Zuckerwatte vor dem Gesicht.
Ganz versunken in diesen Genuss.
Hatten die Gesichter hinter ihm mit Gerry zu tun? Nick schienen sie auf Gerry konzentriert zu sein.
Ihm fiel der erste Abend mit dem Jungen ein. An Veras Tisch.
»Ich werde von einem Mann aus ihrer Gemeinde verfolgt.«
Nick setzte sich auf. Nahm das Fotopapier aus dem Karton. Vierundzwanzig mal dreißig. Das musste genügen. Erst einmal. Größeres hatte er nicht zur Hand.
Zehn Minuten waren vergangen, als er mit der Vergrößerung aus der Dunkelkammer kam und in die Küche ging.
Was hatte nicht alles auf dem Tisch dort gelegen.
Die Fotografien der toten Frauen.
Das Dossier des kleinen Bob.
Nur die Erinnerungen der Göttin nicht.
Die hatte Vera auf ihrem Tisch im Esszimmer liegen gehabt.
O Gott. In was alles hatten sie sich schon hinein begeben.
Der Abzug war grobkörnig. Nick hatte nichts anderes erwartet. Doch er konnte die Leute hinter Gerry erkennen.
Die ältliche Frau mit dem grauen Dutt. Der Mann mit Hut und Aktentasche. Der Bullige im Anorak.
»Er hat versucht, mich vor die Bahn zu stoßen.«
Nick war skeptisch gewesen. Hatte geglaubt, dass Gerry sich wichtig machen wollte.
»Meine Großmutter würde mich lieber tot sehen.«
Nein. Das konnte nicht sein. Nur, weil hier ein paar Leute angestrengt guckten. Zu Gerry guckten.
Doch von diesem Bild ging etwas Bedrohliches aus.
Er würde es Vera zeigen.
Nick guckte auf die Uhr, die auf dem Küchenschrank stand. Zu spät. Sie würden bestimmt schlafen.
Nicht schon wieder, dachte Nick. Anni würde ihn vierteilen.
Eine kleine Recherche für Pit war was anderes.
Nun waren sie mittendrin. Der Junge hatte längst Veras Herz gewonnen und das von Anni.
Nick ging zum Kühlschrank und nahm den Wodka heraus.
Eigentlich wollte er sich die harten Sachen abgewöhnen.
Nur noch Wein.
Doch besondere Situationen brauchten besondere Getränke.
Seine Leber würde das sicher verstehen.
Was hatte Vera ihm erzählt?
Gerry begleiten? Zum Dienst in die Gemeinde gehen?
Nick hatte das für absurd gehalten.
Nun gierte er geradezu danach. Die Frau mit dem Dutt zu sehen. Den Mann mit dem Hut. Den Bulligen.
Er schenkte sich den Wodka ein und trank.
Beinah hätte er gelacht. Das war doch verrückt. Das glaubte er doch nicht im Ernst. Diese drei dort zu treffen.
Das waren zufällige Dombesucher.
Hören, was Gerry zu dem Foto sagte.
Ein schlechter Zeitpunkt, um dieses Telefongespräch zu führen. Vera stand in der Diele und hatte Nicholas auf dem Arm, der quakte, weil er nur noch ein Hemdchen anhatte und längst schon in die Badewanne wollte.
Hauke und Theo waren gerade aus der Tür gegangen, auf dem Weg zu einem Baumarkt. Anni kaufte ein.
Samstagvormittag. Gefrühstückt hatten sie schon.
»Sie haben meine Mutter verbluten lassen«, sagte Gerry.
Vera atmete tief. »Kann ich dich zurückrufen?«, fragte sie.
»Ich steh in einer Telefonzelle, und gleich bin ich bei Elslein. Die hat das alles miterlebt. Damals bei meiner Geburt.«
»Elslein«, sagte Vera. »Hat die kein Telefon?«
»Nein. Das ist in der Gemeinde nicht gebräuchlich.«
»Ich trage Nicholas ins Badezimmer und setze ihn in die Wanne, und dann höre ich dir genau zu.«
Nicholas sprang ihr nahezu vom Arm. Er liebte Badewasser. Vor allem, wenn er noch ein Hemdchen
Weitere Kostenlose Bücher