Tod im Apotherkerhaus
hatte sie eingebüßt, denn durch den Aufprall beim Umdrehen waren zahllose ihrer kleinen Spitzen und Verästelungen abgeknickt. Rapp war, als wäre in ihm selbst etwas zerbrochen, als er die Koralle behutsam an sich nahm. »Wozu?«, murmelte er. »Ich verstehe das nicht. Was soll das alles?« Er legte das Hohltier auf den Tisch und musste sich erst einmal setzen.
Auch der Physikus war ratlos. Er blickte auf die zerstörte Gorgonie und sagte langsam: »Wir müssen darüber nachdenken, müssen alles analysieren, Herr Apotheker.« Er nahm den Kerzenleuchter auf und leuchtete damit den Boden ab. »Dachte ich mir's doch: Es gibt noch mehr Blutflecken, sie sind zwar klein, aber bei näherer Betrachtung nicht zu übersehen.« Immer weiter leuchtend schritt er hinüber in den Thesaurus-Raum und kam wenige Augenblicke später zurück. »Die Flecken bilden eine Spur, die nach unten in die Offizin führt. Sie ist der Beweis für das, was ich schon vermutete: Meinardus Schlich wurde nicht hier ermordet, sondern an anderer Stelle. Wo, lässt sich schlecht sagen, dafür sind die Spuren an den Sohlen seiner Schnallenschuhe zu allgemein, die trockenen Schlammreste können von überallher stammen.«
»Wenigstens wissen wir, wann er gestorben ist«, erwiderte Rapp, kummervoll die lädierte Koralle betrachtend. Der Arzt setzte sich neben ihn. »Ja, ich sagte, vermutlich in der vergangenen Nacht. Aber um es wissenschaftlich präzise auszudrücken: Der Tod des Meinardus Schlich liegt mindestens acht Stunden zurück, denn so lange braucht die Leichenstarre, um - ich erklärte es schon - sich komplett auszubilden. Aber, und das sagte ich noch nicht, die Starre kann bis über neunzig Stunden anhalten, so dass auch ein viel früherer Zeitpunkt für den Mord in Erwägung gezogen werden muss. In jedem Fall können wir aus diesen Überlegungen ableiten, dass der Tote bereits vermisst wird, woraus wiederum der Schluss zu ziehen ist, dass man nach ihm sucht.«
Rapp nickte schwer. »Ich fürchte, da habt Ihr Recht, Herr Doktor. Und ich fürchte noch mehr, dass man hier in meinem Hause suchen wird. Meinardus Schlich war zwar allein mit der Untersuchung des Thesaurus-Raubs beauftragt, aber ganz sicher tauschte er sich mit seinen Kollegen aus, bevor er die Nachforschungen aufnahm.«
»Dem kann ich schwerlich widersprechen.« De Castro stand auf, zog seinen Mantel an und setzte sich wieder. »Ihr müsst damit rechnen, dass schon morgen die Büttel hier erscheinen, um nachzufragen, ob Ihr etwas über den Verbleib des Vermissten wisst. Und Ihr müsst ferner damit rechnen, dass die Herren sich gründlich in Eurer Apotheke umsehen werden.« »Und dabei den Toten finden. Wenn das geschehen würde, könnte ich gleich freiwillig zum Henkersplatz marschieren.« »So ist es. Aber so weit sind wir noch nicht. Die Frage ist doch, warum der Büttel ermordet wurde. Darauf gibt es wie immer zwei Antworten. Die Erste: Dem Imitator und seinen schmutzigen Helfern wurde Angst und Bange bei dem Gedanken, Meinardus Schlich könnte in Zukunft öfter hier herumschnüffeln. Das musste in ihren Augen auf jeden Fall verhindert werden, denn es hätte den gesamten Raub zum Scheitern gebracht. Die Zweite: Irgendwer, wahrscheinlich der Imitator selbst, ahnt, dass der Gehilfe Molinus Hauser in Wahrheit Teodorus Rapp ist, und will sich Eurer auf diese Weise elegant entledigen.«
»Ich glaube nicht, dass der Scharlatan mich erkannt hat«, warf Rapp ein.
»Mag sein, doch selbst wenn er den Verdacht nicht hegte, käme es ihm gelegen, Euch gewissermaßen zu opfern, denn je länger Ihr in diesem Hause arbeitet, desto mehr bekommt Ihr von den Geschehnissen mit und desto größer wird die Gefahr durch Eure Person.«
Rapp presste die Lippen zusammen. »Mit der zweiten Antwort muss ich leben, ich war mir über die Gefahr, erkannt zu werden, von vornherein im Klaren. Die Hauptsache ist, dass meine Freunde von Opas Hof nicht in die Sache hineingezogen werden.« Im Stillen fügte er hinzu: Und um Gottes willen nicht Mine! »Aber zu etwas anderem. Jetzt verstehe ich auch, warum der Imitator so plötzlich für Tage verschwinden musste: Eine Leiche sollte in meinem Haus gefunden werden, und ich sollte den Sündenbock spielen, denn der feine Herr war ja auf Reisen, hatte somit einen Nachweis seiner Abwesenheit und gleichzeitig einen unwiderlegbaren Unschuldsbeweis. Wenn ich nur daran denke, wie heuchlerisch er mir den Hausschlüssel >anvertraute<, könnte ich ihn erwürgen.«
»Ja, Eure
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