Tod im Apotherkerhaus
Ansammlung aus Ecken, Toren und Höfen, wie er sie nie zuvor gesehen hatte, schmutzig, rußig, ungesund. Da und dort stand ein schief in den Angeln hängender Fensterflügel offen, und ein blasses Gesicht lugte zu ihm herab. Vorkragende Stockwerke nahmen das Licht, Wäscheleinen waren von Haus zu Haus gespannt, und Rapp wunderte sich ein ums andere Mal, wie man in solcher Dreckluft überhaupt ein Kleidungsstück aufhängen konnte. Orte wie diese waren es, an denen der Nährboden für Pocken, spanischen Pyp und Schweißsucht blühte. Er fragte wohl mehrere Stunden lang herum, so lange, bis er das Wort Witteke selbst nicht mehr hören konnte. Nur einmal hatte er seine Bemühungen unterbrochen, als er bei einem Eckhöker eine Frau erblickte, die Sauerkraut frisch vom Fass erstand. Sauerkraut! Rapp hatte sich vor Hunger schier der Magen umgedreht. Der Verzehr des Apfelkuchens schien seine Verdauungssäfte nur noch mehr angeregt zu haben. Zudem hatte das Fass in unmittelbarer Nähe gestanden. Direkt vor dem Laden. Die Frau wollte nach dem Kauf noch ein Schwätzchen halten, aber der Höker hatte dafür keine Zeit gehabt, er verschwand gleich wieder im Haus. Da war auch die Frau gegangen. Rapp hatte verstohlen nach allen Seiten geschaut und sich dann in Windeseile mehrere Hand voll des feuchtwürzigen Krauts in den Mund gestopft, geschluckt, gewürgt und wieder geschluckt, immer von der Angst beseelt, jemand könnte plötzlich auftauchen und ihn beim Raub erwischen. Aber es war gut gegangen ... Franz Witteke. Ein Mann dieses Namens war weit und breit unbekannt. Rapp hatte schon seit längerem keine Ahnung mehr, wo er sich befand. Es wurde Zeit, zurückzugehen. Die Frage war nur, in welche Richtung er sich orientieren musste. Er hielt einen kleinen Jungen an, um ihn nach dem Weg zu fragen. Doch fast automatisch richtete er zunächst die tausendmal gestellte Frage an ihn: »Wohnt hier irgendwo ein Witteke?« Und als wäre es die größte Selbstverständlichkeit der Welt, antwortete der Kleine: »De is hier nich mehr to Huus.« Rapp brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass der Bengel der Erste war, der mit dem Namen etwas anzufangen wusste. Wenn er richtig verstanden hatte, wohnte Witteke nicht mehr in der Gegend. Das hieß, er hatte mal hier gelebt und war weggezogen. »Halt, Junge, warte doch!« Das Bürschchen war schon weitergelaufen und blieb widerwillig stehen. »Jo?«
»Wo hat Witteke denn gewohnt?«
»Wo? Dor günt in Opas Hof.« Der Junge wies unbestimmt auf einen finsteren Gang, streckte Rapp die Zunge heraus und verschwand um die nächste Ecke.
Rapp zögerte. Er neigte nicht zu Platzangst, aber der Gang war so eng und niedrig, dass er fast einem Tunnel gleichkam. Als er sich bückte, um hindurchzugehen, vernahm er plötzlich vertraute Töne:
»Appelkoken ut de Koken, wullt du mol'n Stück versöken, denn griep to, denn griep to, hello, hello, probeer 'n Stück von't groote Glück un geev mi wat, geev mi wat för'n Appelkoken ut de Koken ...«
Die Worte hallten in Rapps Ohren wider, während er sich durch den schmalen Gang zwängte. Endlich wurde es heller, und mit jedem Schritt, den er dem Licht entgegentrat, verstärkte sich der Geruch nach Abfällen und Urin. Er gelangte auf einen Hof, dessen Fläche er auf zehn mal acht Schritte schätzte. Auf der gegenüberliegenden Seite neben der Treppe zu einem Wohnkeller stand die Kuchenfrau. Doch diesmal hatte sie ihren Bauchladen nicht um. Sie stand nur einfach da und sang. Und schaute durch Rapp hindurch.
»... wullt du mol'n Stück versöken,
denn griep to, denn griep to,
hello, hello,
probeer 'n Stück
von't groote Glück
un geev mi wat, geev mi wat
för'n Appelkoken ut de Koken ...«
Rapp staunte. Die Frau bot Kuchen an, obwohl sie gar keinen mehr hatte. Ein gutes Dutzend Kinder schwirrte um sie herum. Jungen und Mädchen, mehr oder weniger schniefnasig und blass, in Lumpen steckend, und dennoch auf bemerkenswerte Weise lebensfroh. Wie alle Kinder schienen sie sich nur schreiend verständigen zu können. Rapp fiel auf, dass ein paar von ihnen mit außerordentlicher Geschicklichkeit Kieselsteine auf einen alten Kochtopf warfen. Kaum ein Versuch ging daneben. Abermals wanderte sein Blick zu der Kuchenfrau. Plötzlich hörte er eine piepsige Stimme neben sich. Sie gehörte einem Steppke, der wichtigtuerisch zu ihm aufsah und quäkte: »Se is'n beten mall.«
Andere Kinder näherten sich ihm neugierig. Das Kieselsteinwerfen schien auf einmal nicht
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