Tod im Apotherkerhaus
diejenigen, die deutlich älter waren.
»Gut, das wär's, ich muss jetzt los«, sagte Isi, und ehe Rapp sich's versah, verschwand sie in dem niederen Gang. Er stand da und blickte ihr nach.
»Kannst du mit Steens smieten?«, fragte ein kleiner Junge von vielleicht fünf Jahren.
»Wie? Was?« Rapp musste sich erst an die neue Situation gewöhnen. »Ob ich mit Steinen werfen kann? Ich fürchte, nein.« »Ik ok nich. Ober ik kann in'n Pott reinpien. Süll ik?« Kaum hatte er das unanständige Angebot gemacht, stürzten die anderen Kinder sich auf ihn. »Lotdatno!« »Nich schon wedder!« »Du Swinegel!« »Du Moors!« »Teuv, ik krieg di!«
Doch der Frechdachs war schneller. Er schlug ein paar Haken und flitzte in den niedrigen Gang hinein. Eine Gruppe Kinder jagte ihm hinterher.
Plötzlich stand Rapp ganz allein da. Selbst die Koken-Marie war fort und der Opa hinter dem Misthaufen auch, wahrscheinlich lebten sie in einem der Wohnbauten. Schade, dass Isi verschwunden war. Irgendwie hatte es ihm gut getan, mit ihr zu reden. Was hatte sie gesagt? Mine nimmt dich auf? Rapp blickte zu dem Haus hoch und erkannte unter dem Dach zwei kleine Fenster. Sie waren heil und geputzt. Das musste Mines Wohnung sein. Ob er einfach mal hinaufging? Nein. Das konnte er nicht tun. Aus den genannten Gründen und weil er, wie er zugeben musste, nicht den Mut hatte zu fragen. Im umgekehrten Fall, da war er ziemlich sicher, hätte er die Frau auch nicht zu sich genommen.
Eines der beiden Fenster wurde geöffnet. Eine Hand erschien und schüttelte ein Staubtuch aus. Das Fenster schloss sich wieder. Es war also jemand da. Rapp gab sich einen Ruck. Mehr als ihm eine patzige Antwort geben konnte sie nicht. Das Ganze würde die Sache von einer Minute sein, dann wäre er wieder unten und er hätte es hinter sich.
Und dann? Sollte er fortan unter Bettlern leben, in Kellereingängen schlafen, unter Brücken hausen, Schurkereien und Diebereien verüben, bis der Prachervogt ihn schnappte und ins Spinnhaus steckte, damit er dort Zwangsarbeit verrichtete? Rapp öffnete die morsche Holztür und trat ins halbdunkle Haus. Langsam begann, er die Stiegen emporzuklettern. Zu ebener Erde roch es nach Kohl, im ersten Stock empfing ihn ein Gemisch aus Rauch und Bratheringsdüften, im zweiten stank es nach gekochten Kaidaunen, doch im Dachgeschoss roch es nach nichts. Wenn überhaupt, ein wenig nach Lavendel. Das wunderte ihn. Er verschnaufte einen Moment, nahm sich ein Herz und klopfte. Schritte näherten sich. Rapp stellte die Krücke an die Wand, denn er wollte sie nicht in den Händen halten. Im Dämmerlicht konnte sie womöglich mit einer Waffe verwechselt werden. Dann fiel ihm sein eingerissenes Hemd ein. Hastig zupfte er daran herum, um den schlimmsten Eindruck zu vermeiden.
Die Tür tat sich langsam auf. Ein Frauenkopf mit hübsch bestickter Haube wurde sichtbar. Dann die ganze Frau. Sie war gertenschlank und trug ein hochgeschlossenes Kleid aus einfachem blauem Kattun. »Jo, wat is?«, fragte sie nicht unfreundlich.
Rapp hatte sich mehrere kluge Sätze zurechtgelegt, mit denen er sein Anliegen vortragen wollte, doch nun fiel ihm kein einziger davon ein. »Ah-hm ... ich ...« »Jo?«
Es war zum Verzweifeln! »Du ... du bist doch Mine, nicht wahr?«
Die Frau musterte ihn von oben bis unten. »Nich Mine, Hermine! Wenn di dat nix utmookt.«
»Ach so, Verzeihung, das wusste ich nicht.« Rapp zupfte weiter an seinem Hemd. »Isi sagte mir diesen Namen. Wir haben uns vorhin kennen gelernt, als wir gleichzeitig auf dem, äh, nun, jedenfalls haben wir uns kennen gelernt, und sie sagte mir, sie wäre eine Freundin von dir, und ich könnte ruhig zu dir hinaufgehen und mit dir sprechen.« »Kiek, dat hett Isi seggt?« »Ja, das hat sie.«
Beim Namen Isi verschwand der abwartende Ausdruck auf Mines Gesicht und machte einem Lächeln Platz. Sie trat einen Schritt zur Seite. »Na, kumm erst mol rin. Kannst mi den Rest in de Stuuv verteilen.« »Danke. Vielen Dank.«
Rapp wollte die Krücke greifen und eintreten, doch Mine hielt ihn zurück. »Geiht dat ok ohne Krück?« »Ja, ja, gewiss.« »Denn blifft se buten.«
Rapp folgte Mine in einen Raum, der klein, aber penibel sauber war. Er musste dabei den Kopf einziehen, denn die Decke in der Mansarde war sehr niedrig, Das erste Möbelstück, das ihm ins Auge fiel, war der große Tisch direkt an den Fenstern. Darauf lagen allerlei Schneider-Utensilien wie Nadel und Faden, Schere, Flicken, Stoffe, Kreide. An den
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