Tod im Botanischen Garten - Frank Beauforts dritter Fall
die Gläser drangen, schienen die Organe wie schwerelos zu schweben – vielleicht aber auch an den schönen historischen Etiketten. Was darauf in geschwungener Handschrift mit Tinte rot umrändert geschrieben stand, war reine Poesie: Nierenkelch, Blasengrund, Darmrosette, Zungenbein, Magenschlucht und Venenstern.
Ziemlich prosaisch und einschüchternd war dagegen eine Sammlung von Köpfen und Kopfteilen wie Zunge, Kehlkopf, Augen. Hier sah man überdeutlich, dass sie einmal Teil lebender Menschen gewesen waren. Sie hatten mit diesen Köpfen gerochen, gesehen, gehört, gekaut und geschluckt, genauso wie er und Anne. Doch jetzt waren sie tot und ihre Sinne erstorben.
»In diesem Raum stellen wir unsere Feuchtpräparate aus«, erläuterte Ciseaux. »Er ist noch nicht vollständig ausgestattet, denn es gibt immer noch Körperregionen, die Sie hier kaumvertreten finden. Zum Beispiel die Geschlechtsorgane. Daran werden wir in den kommenden Jahren noch arbeiten.«
Beaufort verschränkte unwillkürlich seine Hände in der Leistengegend und wirkte dabei wie ein Fußballspieler beim Freistoß in der Mauer. Anne steuerte interessiert auf die Sammlung der Häupter zu und blieb vor einem rechteckigen Gefäß stehen, in dem ein halbierter Kopf schwamm. Der Schnitt hatte Stirn, Nase, Mund, Kinn und Hals der Länge nach gespalten, sodass man ins Innere des Schädels blicken konnte.
»Schau mal«, sagte sie begeistert zu Frank, »das ist ein Sagittalschnitt durch den Kopf. Hier erkennst du die Gehirnhälfte und das verlängerte Rückenmark, das in die Wirbelsäule hineingeht. Dann hier vorn den Mund und die Nebenhöhlen – kaum zu glauben, dass die so groß sind. Das da sind die zur Zunge führenden Nerven und die starke Muskulatur im Kieferbereich, und das der hintere Schlund und der Kehlkopfdeckel. Ist doch toll, das mal aus dieser Perspektive zu sehen.«
Beaufort schluckte und fasste sich an den Hals. »Sehr imposant«, sagte er mit belegter Stimme und starrte die halbierte Zunge an. Sie war riesig und nahm den kompletten Unterkiefer ein. Was er erblickte, wenn er seine Zunge vorm Spiegel ausstreckte, oder spürte, wenn er Anne küsste, war höchstens ein Drittel des kompletten Organs.
»Sie kennen sich ja gut aus«, lobte Ciseaux, »sind Sie vom Fach?«
»Ich bin examinierte Krankenschwester, und Anatomie hat mich immer besonders interessiert. Aber jetzt bin ich schon einige Jahre Journalistin.«
»Schade, dass Sie die Medizin aufgegeben haben. Aber schauen Sie sich mal die andere Seite des Kopfes an.« Er führte Anne um das Gefäß herum, wo Nase, Augenlid und Ohr noch so aussahen, wie die Natur sie geschaffen hatte, aber der Rest des Gesichts freipräpariert worden war. »Hier ist die Haut undalles Bindegewebe entfernt worden, teilweise sogar noch tiefere Schichten. Zu sehen sind die mimische Muskulatur und ein Teil der Kaumuskulatur.«
Anne beugte sich vor, um alles noch genauer betrachten zu können. Der blondgelockte Chefschnippler tat es ihr gleich und erklärte Details des Präparats.
»Das muss ja eine Wahnsinnsarbeit gewesen sein, das alles freizulegen«, stellte sie fest und strich sich eine dunkle Haarsträhne hinters Ohr. »Wie lange haben Sie daran gesessen?«
»Dieses Werk stammt nicht von mir, sondern von einem meiner Vorgänger. Aber an so einer tieferen Gesichtspräparation arbeitet man viele, viele Wochen.«
Es war Zeit, dieses traute Tête-à-Tête-à-Tête zu stören, fand Beaufort und stellte die Sinnfrage: »Braucht man solche Sammlungen heute überhaupt noch? Schnittbilder durch den Körper liefern doch auch Computertomografen und Ultraschallgeräte. Und zwar, ohne dass man dafür tot sein muss.«
Ciseaux richtete sich auf und wandte sich ihm zu. »Das stimmt. Es gibt wirklich hervorragend fotografierte Anatomie-Atlanten und ganze Datenbanken digitaler Bilder aus dem Inneren des Körpers, aber ein echtes Präparat können die nicht ersetzen. Erst hier verstehen Sie wirklich, dass das kein Bild ist, sondern mal der Kopf eines lebendigen Menschen war. Oder dass das Herz dort drüben mal in einem Körper geschlagen hat. Ein Präparat ist authentisch und macht viel mehr Eindruck. Man kann es in den Händen halten, drehen und wenden.«
»Na ja, aber eine gewisse makabre Faszination hat das alles hier schon«, fand auch Anne.
»Das ist nicht makaber, sondern real. Das ist unsere Zukunft. Da geht es hin, für jeden von uns. Den Toten, die wir jetzt anschauen, werden wir unausweichlich nachfolgen.
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