Tod im Dünengras
Carlotta fuhr mit beiden Handrücken von der Stirn zu ihren
Knien. »Ich bin nicht danach angezogen.«
Carolin lachte. »Wir wollen doch da nicht dinieren, Nonna! Nur ins
Büro, wo Vera auf uns wartet. Gemeinsam mit ihr gehen wir dann zur Probe.«
Da Carolin selbstbewusst das Restaurant betrat, wollte ihre
GroÃmutter ihr nicht nachstehen. Und als gleich der erste Ober, der Carolin
anscheinend kannte, sie mit einer kleinen Verbeugung begrüÃte und zur Tür des
Büros wies, richtete sich Mamma Carlottas Selbstvertrauen wieder auf. Die
letzten Meter auf den weichen Teppichen genoss sie sogar.
Vera Ingwersen war wirklich eine patente Person. Ohne Zweifel wäre
sie auch das Aushängeschild der elterlichen Metzgerei gewesen. Sie verkörperte
alles, was Frische, Sauberkeit und Gesundheit ausmachte. Ihr rundes Gesicht
wurde von einem hellblonden Pagenkopf umrahmt, ihre Wangen waren rosig, ihre
Augen glänzten. Das blitzsaubere Dirndl war gut gefüllt, ihre Hüften rundeten
sich unter dem Band der Schürze, und die weiÃen Rüschen am Ausschnitt
garnierten das, was man in ihrer Heimat »Holz vor der Hüttn« nannte. Vera
Ingwersen gehörte zu den Frauen, die noch mit einer fiebrigen Erkältung oder
einem Magen-Darm-Katarrh kerngesund aussehen.
Sie begrüÃte Carlotta freundlich und bot ihr einen bequemen Sessel
an, der vor ihrem Schreibtisch stand. Carolin hockte sich auf die Fensterbank.
Es sah so aus, als hätte sie schon öfter dort gesessen, wenn es mit der
Chorleiterin etwas zu besprechen gab.
»Ihre Enkelin hat mir erzählt«, begann Vera lächelnd, »dass Sie gern
singen, eine schöne Stimme haben und auch schon Erfahrung im Chorgesang.«
Zu den ersten beiden Punkten nickte Mamma Carlotta bekräftigend, den
dritten lieà sie unkommentiert. Kleine Ãbertreibungen zählte sie zwar nicht zu
der Sünde der Lügen, aber ausdrücklich bestätigen wollte sie die Erfahrung mit
ihrem Chor, der kaum ein Vierteljahr bestanden hatte, nun doch nicht.
Vera Ingwersens Gesicht nahm einen bekümmerten Ausdruck an. »Der
Inselchor wird immer kleiner. Allein in der letzten Woche kamen vier
Krankmeldungen. Und das kurz vor dem Chorwettbewerb! Der Sopran besteht nur
noch aus drei Sängerinnen. Die Chöre aus Niebüll und Flensburg sind doppelt so
groà wie der Sylter Inselchor. Die singen uns glatt an die Wand.« Sie legte
beide Unterarme auf den Schreibtisch und beugte sich vor, sodass ihr Dekolleté
sich noch um einiges eindrucksvoller präsentierte. »Im Klartext: Ich bin für
jede Stimme dankbar, vor allem im Sopran. Vorausgesetzt natürlich, es ist eine
Stimme, die sich in unseren Chor einfügt und die sauber singt. Und natürlich
eine Sängerin, die sicher im Repertoire ist. Das ist zum Glück einfach, die
Melodien der Volkslieder prägen sich schnell ein.«
Mamma Carlotta versicherte, dass das längst geschehen sei. »Carolin
übt so viel zu Hause, dass ich mittlerweile alle Melodien kenne und die meisten
Texte auswendig kann.«
»Obwohl Sie Italienerin sind?« Vera nickte anerkennend. »Wunderbar!
Dann werden wir ja gleich sehen, wie Sie sich einfügen. Wenn es klappt, können
Sie beim Chorwettbewerb mitmachen. Ansonsten würde ich mich freuen, Sie als regelmäÃige
Gastsängerin begrüÃen zu dürfen. Wir haben mehrere Feriengäste, die dem Chor
als Gastsänger beigetreten sind.« Sie beugte sich vertraulich vor. »Der
Inselchor hat nur ein Ziel: Spaà am Gesang. Daran ändert auch der Wettbewerb
nichts. Ob wir gewinnen oder verlieren, ist eigentlich egal. Aber dadurch hat
das regelmäÃige Ãben ein Ziel bekommen! Das fördert die Motivation.«
Mamma Carlotta versicherte strahlend, einer solchen Motivation
bedürfe es bei ihr eigentlich nicht, und machte sich bereit, um der
Chlorleiterin ihren klaren Sopran vorzuführen.
Doch Vera Ingwersen winkte ab. »Nicht nötig. Ich vertraue auf
Carolins Einschätzung.«
Carolins Gesicht rötete sich vor Freude, und Mamma Carlotta
betrachtete ihre Enkelin stolz. »Ja, Carolin kennt sich aus. SchlieÃlich möchte
sie später mal Sängerin werden.«
»Ich könnte mir vorstellen, dass sie in ein paar Jahren die
Chorleitung übernimmt«, wich Vera aus. »Sie kann nicht nur Noten lesen, sondern
auch vom Blatt singen. Mit dem Dirigieren hat sie es auch schon versucht,
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