Tod im Dünengras
brach
sofort das Gespräch ab, das er mit einer Tanzschülerin führte, und kam auf
Mamma Carlotta zu. Er bedachte sie mit Bussi links und Bussi rechts und
flüsterte ihr zu, dass er es ganz süà von ihr fände, wenn sie niemandem etwas
von ihrem letzten Zusammentreffen erzählen würde. »Vor allem Vera nicht. Sie
ist eine so starke Frau. Sie würde mich auslachen, wenn sie wüsste, dass mich
der Tod ihrer Schwiegermutter derart mitnimmt!«
Carlotta versicherte ihm, dass sein Geheimnis bei ihr gut aufgehoben
sei, und erkundigte sich mitfühlend, ob sein Magen-Darm-Trakt den schrecklichen
Todesfall nun verarbeitet habe. »Ansonsten würde ich Ihnen ein Glas Essigwasser
empfehlen. Kümmelkörner, langsam zerkaut, helfen auch. Wenn Sie empfindlich
sind, sollten Sie immer Kümmelkörner dabeihaben.«
Willem Jäger bedankte sich derart überschwänglich, dass er das
Werbematerial, das auf einem kleinen Tisch auslag, mit seinem linken Ellbogen
in Aufruhr versetzte. Während er noch beteuerte, wie süà er es fand, dass Mamma
Carlotta sich so rührend um seinen Magen-Darm-Trakt kümmere, flatterten bereits
die ersten Flyer zu Boden. Erschrocken warf sich Willem auf den Stapel und
hielt, was zu halten war, unterdessen bückte Mamma Carlotta sich flink, um die
heruntergefallenen Flyer aufzuheben. Dabei fiel ihr Blick auf die Schuhe des
Tanzlehrers. Aus feinstem schwarzen Leder waren sie, perfekt geputztâ und sehr lang. Ob Willem Jäger zu denen
gehörte, die ein Paar neue Turnschuhe achtlos in einen Papierkorb warfen?
Sie reichte ihm die Flyer und sollte zweifellos zu hören bekommen,
wie süà es sei, dass sie sich seinetwegen bemüht hatte ⦠da veränderte sich
sein Gesicht. Es nahm einen verlegenen Ausdruck an, sein Blick wurde unstet,
seine aufrechte Haltung verbog sich.
Vera war eingetreten, in ein graues, schlichtes Dirndl und dunkle
Würde gekleidet. Sie war blass, aber ihr Lächeln sollte allen zeigen, dass sie
sich nicht unterkriegen lassen wollte. Willems Beileidsgestammel nahm sie
freundlich entgegen und bedankte sich herzlich für Carlottas Anteilnahme. Dann
erklärte sie resolut, man wolle nun für ein, zwei Stunden alles Schreckliche
vergessen und das tun, was ihrer dahingeschiedenen Schwiegermutter so viel
bedeutet habe: singen!
»Utta hätte nicht gewollt, dass wir auf den Chorwettbewerb
verzichten«, erklärte sie dem versammelten Chor. »Und ich möchte nicht, dass
ihr nach so vielen Proben um die Freude gebracht werdet, euch mit anderen zu
messen.« Sie machte auch vor dem Satz: »Das Leben geht weiter!« nicht halt und
versicherte, dass jedem Trauernden am besten damit geholfen würde, dass er
weiterhin seiner Arbeit nachging. »Mein Schwiegervater hat die Muschel I nicht geschlossen, mein Mann und ich
wollen uns daran ein Beispiel nehmen. Die Muschel II bleibt ebenfalls geöffnet, und die Chorproben gehen weiter.«
Für den Applaus, den sie von den Chorsängern erntete, bedankte sie
sich mit einem kleinen tapferen Lächeln. Mamma Carlotta vergaà das
Applaudieren, weil sie in diesem Augenblick beobachtete, wie Carolin sich an
ihren Freund lehnte und ihn so verliebt ansah, als würde sie mit ihm durch eine
schöne Erfahrung verbunden.
Prompt brach Mamma Carlotta der Schweià aus. Was würde Lucia von ihr
erwarten? Dass sie Carolin nicht mehr aus den Augen lieÃ? Dass sie ein
aufklärendes Gespräch mit ihr führte? Mit keinem ihrer sieben Kinder war ihr
das gelungen! Zwar hatte sie sich gelegentlich gefragt, ob sie sich ein
Versäumnis vorzuwerfen hatte, aber dann war sie unfreiwillig Zeugin geworden,
wie ihre Tochter ihre Ãlteste in die Geheimnisse der Liebe einweihte. Dabei
musste Mamma Carlotta die bestürzende Feststellung machen, dass ihre Enkelin in
der Theorie bereits besser bewandert war als sie selbst in der Praxis, und sie
war froh gewesen, dass sie eine diesbezügliche Unterweisung getrost von der
langen Liste ihrer Pflichten streichen konnte. Nein, Lucia würde nicht von ihr
erwarten, dass sie sich eine Aufgabe auflud, der sie nicht gewachsen war. Blieb
also nur, ein wachsames Auge auf Carolin zu haben, bis ihr Vater Zeit hatte,
sich selbst um seine Tochter zu kümmern.
Mamma Carlotta wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Vera sagte:
»Alles, was meine Schwiegermutter geliebt hat, soll weiterleben. Nicht nur der
Gesang und
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