Tod im Ebbelwei-Express (German Edition)
sturmgepeitschte Geäst eines Apfelbaums projizierte abstrakte Formen auf das kleine, holzgerahmte Fenster an der Westseite. Earthquake-Werner köpfte zur Feier des Tages eine Flasche feinsten Glenkinchie Lowlandmalt.
Albert schaltete den Kassettenrekorder ein, jederzeit bereit, die Musik von Saxon lauter zu drehen, sollten ihn Schurkenschreie dazu veranlassen. Die werte Nachbarschaft mußte ja nicht alles mitbekommen.
Earthquake-Werner, befeuert vom ersten tiefen Schluck: „Darf ich auch mal zuschlagen?“ Er ließ die Finger knacken, der Geschmeidigkeit wegen.
Tatjana. „Prekrati, tut opastnie lüdi. Luchsche skaschi im, to, chto oni xotjat uslischat?“ – Hör zu, die Leute hier sind gefährlich. Besser, du sagst ihnen, was sie hören wollen.
Abermals spuckte Fjodor auf den Boden. Postwendend kam die rechte Gerade von Earthquake-Werner. Der Stuhl kippte samt Russen nach hinten weg. Fürsorglich träufelte Earthquake- Werner ein paar Tropfen des edlen Destillats zur Desinfektion auf die geplatzten Lippen. Dann richtete er ihn wieder auf.
Das ging so ein paarmal hin und her, dann mußten Pflaster geklebt werden.
Albert: „Wie wär’s, wenn wir ihn einfach totmachen?“ Wie gesagt, seine Diktion entsprach seinem Bildungsstand.
Der Russe war schockiert. „Nein.“
René: „Na, sieh mal einer an, spricht der Bub Deutsch.“
Fjodor: „Nein.“
Earthquake-Werner: „Doch.“
„Nein, niemals.“
René zu Tatjana: „Ich glaub, wir brauchen dich hier nicht mehr. Trotzdem vielen Dank.“ Er überreichte ihr zwei Hundert-Euro-Noten.
Tatjana: „Macht’s gut, Jungs.“
Earthquake-Werner war davon überzeugt, ihr letzter, sicherlich schmachtender Blick habe ihm gegolten.
Doch so sehr sich Albert, Earthquake-Werner und René auch Mühe gaben, aus Fjodor Alenichev sprudelten fortan keine Worte mehr, weder russische noch deutsche.
Es war schon fast Neun, als René die Worte sprach: „Lassen wir’s gut sein für den Moment. Albert, du bleibst hier und läßt den Knaben nicht aus den Augen. Ich schick dir nachher was zu essen rauf. Ich hab da so eine Idee.“
Es regnete nicht mehr. Gemütlich schlenderten Earthquake-Werner und René das Zwerchgäßchen hinab, begleitet vom Sonntagsgeläut der nahen Herz-Jesu-Kirche. René war hundemüde und mußte sich dringlich aufs Ohr hauen.
Die Glieder waren schwer, die Haut nahezu transparent. Es war schon wieder dunkel, als Herr Schweitzer erwachte. Trotz aller kürzlich erlebten Fährnisse hatte er hervorragend geschlafen und süß geträumt. Allerdings trübten Halsschmerzen sein Wohlbefinden gar arg. Zum Test führte er die rechte Hand auf seine Stirn. Fieber. Mindestens zweiundvierzig Grad. Ihn fröstelte.
„Mariii-a.“
Flugs erschien die Gerufene. „Hallo Schatz, wie geht’s?“
„Wie soll’s mir gehen? Du weißt doch, als Sexsymbol hat man keine ruhige Minute“, sagte er mit krächzender Stimme.
„Wie ein Sexsymbol siehst du mir aber nicht aus.“ Auch ihre Hand suchte den Weg auf seine Stirn.
„Ich bin krank.“
„Ich merk’s.“ Maria war immer noch überglücklich, weil ihrem Simon nichts passiert war. Was machte da schon eine kleine Erkältung? „Ich mach dir einen Kamillentee mit Honig. Du wirst sehen, das hilft.“
Fünf Minuten später. „Hier, mein Schatz, trink.“
Herr Schweitzer setzte sich auf und Maria stopfte ihm ein Kissen in den Rücken. „Ich hab dir noch eine Orange geschält. Bald bist du wieder auf dem Damm.“
Herr Schweitzer ließ sich gerne umsorgen. Er war nicht oft krank, doch wenn, dann richtig. Bald würden Schnupfen und Gliederschmerzen folgen. So war es jedesmal. Bestimmt war sein kalter Kerker dran schuld.
Maria: „Schau mal, was ich im Briefkasten gefunden hab. Der Briefträger kam gestern wohl etwas später.“ Sie wedelte mit einem Umschlag.
„Was ist das?“
„Rate mal.“
Herr Schweitzer hatte nicht die geringste Ahnung und zuckte mit den Schultern.
„Man hat mein Manuskript angenommen. Ich muß mich nur ein wenig an den Druckkosten beteiligen. Ist das nicht toll?“
„Super. Ich freue mich für dich.“
„Eigentlich wollte ich dich heute abend zum Essen einladen, um das Ereignis gebührend zu feiern, aber so wie’s aussieht, ist mein kleiner Prinz dazu zu schwach.“
„In ein paar Tagen bin ich wieder fit.“ Herr Schweitzer schlürfte an seinem Tee. „Hmm, lecker.“
Maria stand auf und zog die schweren Brokatgardinen zu.
„Magst du was essen? Du mußt hungrig sein. Ich könnte
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