Tod im Koog - Hinterm-Deich-Krimi
seelischen Gefühle entwickelt. Ich schäme mich
für die Schwachheit, der ich erlegen bin.«
Christoph störte es, dass Kirchner zwischen den Zeilen den Eindruck
erweckte, als wäre er das Opfer einer Attacke Schwester Heikes geworden, das
sich nicht gegen die Versuchung hatte wehren können. Der Mann bedauerte sich
fortwährend, nachdem er zu Beginn des Geständnisses sehr viel Gefühl für das
Mordopfer gezeigt hatte.
»Und weil Sie verheiratet sind und sich der Tragweite Ihres
Fehltritts bewusst wurden, haben Sie die Spuren beseitigt und unter
Kontrollverlust Schwester Heike ermordet.« Nachdem Große Jäger lange geduldig
zugehört hatte, übernahm er jetzt die Rolle des »Bösen«, der die harten Fragen
stellte.
»Ermordet? Ich doch nicht. Nein!« Es war ein Aufschrei. »Die Frau
war doch völlig am Ende. Und ich war auch in einer unsäglichen Verfassung.«
»Das ist der Nährboden für Totschlag im Affekt«, sagte der
Oberkommissar. »Natürlich sind Sie kein brutaler Mörder, der mit Vorsatz einen
Menschen umbringt.«
»Ich war verzweifelt über mein Tun. Ja! Aber weshalb sollte ich
einen Menschen ermorden? Weshalb?«
»Hatten Sie einen Höhepunkt? Und Schwester Heike?«, fragte
Christoph. Es sollte beiläufig klingen.
»Solche Fragen beantworte ich nicht«, stellte sich Kirchner
plötzlich stur.
»Was haben Sie nach der Vereinigung gemacht?«
»Sie hat sich aufgerichtet und notdürftig angekleidet, mich keines
weiteren Blickes gewürdigt und ist ohne ein Wort aus dem Raum gelaufen. Ich
habe mich erst einmal sammeln müssen, bis ich mich notdürftig zurechtgemacht
hatte. Dann habe ich einen Waschraum aufgesucht, mich oberflächlich gesäubert
und in einer Toilettenbox eingeschlossen. Dort habe ich eine Weile gehockt und
versucht, wieder zu klarem Bewusstsein zu kommen. Danach bin ich zum Parkplatz
gegangen.«
»Hat Sie jemand gesehen?«
»Ich weiß es nicht.« Plötzlich schien ihm etwas einzufallen. »Doch.
Ich bin dem Architekten begegnet, der irgendwo ein wenig abseits
herumlungerte.«
Das stimmte mit de Frontiers Aussage überein, dachte Christoph. Der
hatte gesagt, dass Bürgermeister Kirchner um zehn Uhr gegangen sei. Mit
Kirchners Geschichte wäre auch die Diskrepanz zu Pastor Hansens Aussage
geklärt, der behauptete, der Bürgermeister sei eine Stunde früher aufgebrochen.
»Sie sind dann nach Hause gefahren?« Christoph sprach nicht an, dass
Kirchner ihm früher erzählt hatte, er wäre erst nach Mitternacht daheim
eingetroffen.
»Nein. Ich bin zum Dockkoog gefahren und dort ein wenig auf dem
Deich gelaufen. Es ist ja fast bis Mitternacht hell um diese Jahreszeit. Ich
war so konfus, dass ich mich erst einmal sortieren musste. Als ich zu Hause
eintraf, war ich froh, dass ich dort niemanden mehr angetroffen habe.«
Große Jäger schüttelte energisch den Kopf. »Das ist eine tolle
Geschichte, die Sie uns hier auftischen wollen. Wie lange haben Sie daran
gebastelt? Zeit genug hatten Sie ja, bis wir Ihnen auf die Schliche gekommen
sind. Sie wollen ›den Kohl machen‹, was?«
Der Bürgermeister sah den Oberkommissar ratlos an.
»Das Ganze aussitzen«, erklärte große Jäger. »Einfach mal abwarten,
was die blöde Polizei herausbekommt. Vielleicht klappt es ja. Da passen ein
paar Dinge nicht zusammen. Sie sind, äh …«
»Zweiundvierzig«, antwortete Kirchner eilfertig.
»Da steht man mitten im Leben. Sie sind gestählt durch viele
Diskussionen mit politischen Gegnern. Sie haben gelernt, sich argumentativ
durchzusetzen, Widerstände niederzureden, Ihre Vorstellungen zu verwirklichen.
Das ist Ihr Job. Und nun probieren Sie es mit uns.«
»Ich schwöre es Ihnen. Genauso, wie ich es Ihnen erzählt habe, ist
es gewesen. Warum soll jemand, der ein öffentliches Amt bekleidet, nicht auch
menschliche Gefühle haben? Ratlos sein über eigenes Fehlverhalten?«
Kirchners Darstellung hatte in Christoph nicht alle Zweifel
beseitigt. Doch derzeit konnten sie ihm nichts anderes beweisen. Alles, was
gesichert war, hatte der Mann zugegeben. Für alle gegen ihn gerichteten Beweise
hatte er eine stichhaltige Begründung abgeliefert. Bevor Große Jäger
weiterbohren konnte, beendete Christoph das Gespräch.
Der Oberkommissar war sichtlich ungehalten, als sie wieder auf der
Straße standen. »Wenn du nicht so ungeduldig gewesen wärst, hätte ich die
Wahrheit aus ihm herausgeholt«, grollte er.
»Was ist, wenn Kirchner die Wahrheit gesagt hat?«
»Hast du schon einmal einen Politiker gesehen, dem
Weitere Kostenlose Bücher