Tod im Koog - Hinterm-Deich-Krimi
unterbrochen wurde.
Kirchner stützte sich mit beiden Händen auf der Fensterbank ab und
machte ein paar Dehnübungen.
»Ich wollte bei der erstbesten Gelegenheit aufbrechen und war froh,
als Pastor Hansen, dem es ähnlich ergangen sein muss wie mir, gegen neun Uhr
aufbrach. Wir sind zusammen gegangen.«
»Da gibt es einen Widerspruch«, hakte Christoph ein.
»Ich weiß«, gestand Kirchner. »So habe ich Ihnen meine erste Version
erzählt. Ich musste doch das Folgende verbergen. Oh Gott.«
Der Bürgermeister nahm sich eine Auszeit in Länge einer weiteren
Zigarette. »Ich wollte wirklich gehen. Zuvor wollte ich aber noch einmal
austreten. Kurz vor mir war Schwester Heike ins Haus gegangen. Ich bin ihr
nicht gefolgt. Wirklich nicht.«
Er drehte sich zu den beiden Beamten um und versuchte in deren
Gesichtern zu lesen, ob sie ihm glaubten. Dann wandte er sich wieder dem
Fenster zu.
»Ich wollte noch die Toilette aufsuchen, bevor ich die Heimfahrt
antrat. Ich musste mich zunächst orientieren und stieß plötzlich auf Herrn
Blödorn von der Kreisverwaltung, der richtiggehend erschrak, als wir uns
begegneten. Er hat mich mit großen Augen angesehen, ist dann aber schnell in
den Garten geeilt.«
»Wissen Sie, was er im Haus gemacht hat?«
»Nein. Ich hatte auch keine Veranlassung, ihn zu fragen. Auf dem Weg
zu den Sanitärräumen hörte ich ein leises Schluchzen. Schwester Heike. Es war
ihr unangenehm, dass ich es mitbekommen hatte. Dann brachen aber alle Dämme bei
ihr. Sie konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Die Demütigungen, die sie
und ihre Kolleginnen erfahren mussten, waren das i-Tüpfelchen. Sicher spielten
auch die enormen nervlichen Belastungen eine Rolle, wie sie mir in unserem
kurzen Gespräch erzählte. Da kam vieles zusammen. Ich stand ihr gegenüber und
war ratlos. Ich hatte ja mitbekommen, was da draußen im Garten gelaufen war,
und fühlte mich in diesem Moment hilflos. Sie stand einfach nur da, zitterte
und schluchzte. Dabei liefen ihr die Tränen in Bächen hinab. Ich versuchte,
beruhigend auf sie einzuwirken, aber ich erreichte sie nicht. Wie es geschah,
weiß ich nicht mehr, aber ich machte einen Schritt auf sie zu und nahm sie in
den Arm.«
Kirchner wirkte, als müsse er nach dieser Erklärung eine Pause
machen.
»Sie wehrte sich nicht, sondern drückte sich an mich, legte ihren
Kopf an meine Schulter und umklammerte mich. Ich wusste gar nicht, wie mir
geschah, als ich diesen vibrierenden Frauenkörper im Arm hielt.«
Christoph erinnerte sich an die Aussage des Freundes der Familie,
Ben-Reiner Graf. Der hatte erzählt, dass Heike Bunge die Angewohnheit hatte,
auf viele Menschen zuzugehen und sie in den Arm zu nehmen, sie zu knuddeln. Und
das ohne jeden Argwohn oder Hintergedanken. Ob sie das auch bei Ewald Kirchner
getan hatte, als sie fast verzweifelt war über die Art, wie man ihr und ihren
Kolleginnen auf der Einweihungsfeier begegnet war? Wo manche die Frauen als
Freiwild betrachteten?
»So standen wir eine ganze Weile. Ich wollte mich von ihr lösen,
aber sie hielt mich einfach fest, so als würde sie ohne Hilfe umfallen. Ich
strich ihr sanft über den Hinterkopf und sprach leise. Ich weiß nicht mehr, was
ich gesagt habe. Aber sie schien mir gar nicht zuzuhören.«
Kirchner schluckte vernehmlich. Christoph musste sich auf die Worte
des Bürgermeisters konzentrieren. Seine Stimme wurde immer leiser.
»Ich … ich konnte sie doch nicht von mir stoßen, oder?«
Kirchner hatte sich bei dieser Frage umgedreht und sie nahezu flehentlich
gestellt. Er bettelte um eine Antwort, um Verständnis. Aber weder Christoph
noch Große Jäger zeigten eine Spur Beteiligung, weder zustimmend noch
verurteilend. Sie waren in diesem Augenblick professionell neutral.
»Plötzlich, ohne dass ich es wollte oder mich dagegen wehren konnte,
stellte sich bei mir eine männliche Regung ein. Das verstehen Sie doch, oder?«
Kirchner streckte die Arme vor, als würde er in Gedanken erneut Schwester Heike
umarmen. »Ich wollte von ihr fortrücken, weil es mir peinlich war. Sie musste
es spüren. Und das war das Schlimmste, was nach all dem, was sie zuvor erleben
musste, jetzt geschehen konnte. Was sollte sie von mir denken? Aber es gelang
mir nicht. Sie presste sich fest an mich, suchte Halt. Sie musste meine
Erregung gespürt haben, die ich nicht kontrollieren konnte. Dieser warme,
weiche, bebende Frauenkörper. Ich weiß nicht, wie, aber auch sie schien die
Erregung gepackt zu haben. Deutlich war es
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