Tod im Palazzo
schon, als ich La Nazione sah.«
»Die Nazione? «
»Ich habe die Zeitung unter ihrem Sitzkissen herausgucken sehen.«
William schmunzelte. »Sie liest nur, welche Geburten, Hochzeiten und Todesfälle in diesem Käseblatt angezeigt werden. Sagen Sie, müssen Sie schon gehen? Hätten Sie nicht eine Viertelstunde Zeit? Ich möchte Ihnen etwas Interessantes zeigen. Sie müssen noch viel über dieses Haus lernen. Kommen Sie!«
Der Wachtmeister wußte, daß er zurück in sein Büro mußte, um seinen verflixten Bericht zu schreiben und diese Sache endlich hinter sich zu bringen. Hätte er es nur gewußt – dies war seine letzte Chance, einfach nur genau das zu tun. Er zögerte. Dieses Haus war ihm zuwider, dennoch übte es eine Art kühle Faszination auf ihn aus, und abgesehen davon war er gern in der Gesellschaft dieses jungen Mannes, der so ganz anders war als er selbst. Immerhin, er guckte auf seine Uhr. War es ein Zufall, daß er sich entschloß zu bleiben? So sah es zumindest aus, doch später, im nachhinein, schien es ihm, als sei er von Anfang an klar und unbeirrt seinen Weg gegangen, schon von dem Moment an, als er vor Corsis Gesicht mit den dunklen Flecken gestanden hatte. Vielleicht war es am Ende doch nicht so wichtig gewesen, daß er daran gedacht hatte, »Ich muß zurück«, zu sagen, statt dessen aber nichts gesagt hatte und Williams flinken, chaplinesken Schritten gefolgt war, zurück in das Atelier.
»Abend, Herr Wachtmeister!«
Jetzt erst bemerkte er den Zwerg, dachte sich aber nichts dabei. Er trat hinter William in das Atelier und schloß die Tür.
Eine Stunde später saß er noch immer da und las, besser gesagt, entzifferte.
»Nein… Das kann ich nicht lesen.«
»Macht nichts. Hier, probieren Sie das mal. Es ist unvollständig, aber das Wesentliche ist da. Catherine hat es in der Marucelliana- Bibliothek fotokopieren lassen. Es hilft einem nicht immer, aber manchmal findet sich ein Hinweis, daß irgendwelche Angaben fehlen, also eine Seite fehlt oder sich an einer falschen Stelle befindet. Hier… das ganze Zeug über Cosimo den Alten können Sie auslassen – 1490… Neri Ulderighi, da haben wir ihn: darf ich mal… Im Jahre 1490 beschloß Neri Ulderighi, sein Haus in Florenz zu erweitern. Er erwarb die an seinen mittelalterlichen Turm angrenzenden Häuser in der Stadtmitte und schickte einen Entwurf von Fassade und Innenhof nach Rom. Die Zeichnung, die er erhielt, angeblich von Raffael, wurde dem Baumeister Lapo Cinelli zur Beurteilung übergeben. Die Zeichnung wurde nie zurückgegeben. Cinelli behauptete, sie verloren zu haben. Neri wandte sich an Lorenzo de' Medici um Hilfe… Hier, sehen Sie? Das ist aus dem Brief, den Sie entziffern wollten: Da die Zeichnung von außerordentlicher Güte ist und der Künstler nicht die Zeit hat, eine zweite anzufertigen, und Eurer Hoheit bekannt ist, daß, sollte ich ein Gericht anrufen, es nur eine Geldbuße wegen Verlust eines Manuskripts verhängen würde, was einen Schurken nicht sonderlich beeindruckt…!«
Der Wachtmeister saß verwirrt da, während William, halb auf der Kante des Arbeitstisches sitzend, weiter vorlas. »Aber hat er…«
»Sekunde… Lorenzos Antwort ist verschollen, aber es gibt ein Zitat daraus, was beweist, daß er tatsächlich geantwortet hat… Hier: Er soll vor Gericht erscheinen, damit die Zeichnung gefunden werde.
Vielleicht hat es nie einen vollständigen Brief an Neri gegeben, sondern nur eine Randnotiz auf einer Anordnung oder vielleicht wurde die Sache in einem Brief an jemand anderes erwähnt.«
»Und, wurde die Zeichnung dann gefunden?«
»Warten Sie! Es wird noch spannender. Hören Sie sich das an: Lorenzos Intervention blieb ohne Erfolg. Cinelli behauptete nachdrücklich, die Zeichnung sei verlorengegangen, aber er erinnerte sich so gut an sie, daß er mit der Arbeit beginnen konnte. Zur Entschädigung für den Verlust der Zeichnung erklärte er sich bereit, auf einen Teil seiner Bezahlung zu verzichten. Bald nach Arbeitsbeginn kam Neri zu Ohren, daß Cinelli sich damit brüstete, ihn hintergangen zu haben, und daß eine Zeichnung von Raffael sehr viel mehr wert sei als der Teil des Honorars, auf den er verzichten wollte. Drei Tage, nachdem Neri dies gehört hatte, war Cinelli tot, ermordet und eingemauert in dem Keller des Hauses, das zu errichten er begonnen hatte. Cinellis Sohn führte den Auftrag weiter, und der Palazzo Ulderighi wurde fertiggestellt, aber der Sohn wußte angeblich, wer seinen Vater
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