Tod im Palazzo
bezog. Das war interessanter vielleicht als die Todesanzeigen zu lesen, um zu erfahren, wie viele ihrer Freunde und Bekannten noch lebten. Wahrscheinlich hatte sie alle überlebt. Trotzdem war es irritierend, all diese ekelhaften Einzelheiten aus dem Munde einer so zerbrechlichen und weißhaarigen Person zu hören. Und so, wie sie es erzählte, konnte man glauben, sie sei selber dabei gewesen. Die Story mit der Leiche im Keller war geeignet, um einem zu Alpträumen zu verhelfen, aber sie klang, als hätte sie sie eher aus einem Buch als aus der Zeitung, denn der Spruch »Mein Kummer hat nun ein End'« klang doch etwas altmodisch. Derlei wurde heute nicht mehr auf Grabsteine geschrieben. Na ja, woher sie es auch hatte, der Wachtmeister würde seine Sorgen jedenfalls nicht hier loswerden, soviel stand fest. Das einzig Gute war, daß er seinen Besuch abgestattet, seiner Pflicht genügt hatte. Er hatte mit jedem gesprochen, den er sprechen mußte, und keine Beweise für einen Selbstmord gefunden, außer eben den Hinweis auf einen nächtlichen Streit. Wenn aber jeder nächtliche Streit mit einem Selbstmord endete… Irgendwie mußte er versuchen, sich aus dem Griff der Alten zu befreien. Munter fragte er: »Darf ich mir Ihre Bilder ansehen, bevor wir gehen? Es sind so viele.«
Nicht daß sie ein Wort verstanden hätte. William mußte die Frage wiederholen, sie ihr ins Ohr brüllen, bevor die beiden aufstehen durften. Eine Wand war völlig bedeckt mit Andachtslämpchen aus rotem Plastik.
»Aber…«
Der Wachtmeister besann sich eines Besseren und schwieg.
»Mm. Ich dachte mir schon, daß Sie überrascht sein würden. Wollen wir gehen?«
Es war nicht so einfach, loszukommen. Die alte tata, klammerte sich an William, und schließlich mußte er ihr versprechen, sie am nächsten Tag wieder zu besuchen.
Draußen auf dem Innenhof bekannte er: »Es ist ein mieser Trick, aber sie kann die Tage nicht mehr auseinanderhalten, und wenn ich am Samstag oder Sonntag kurz vorbeischaue, ist es auch gut. Das Erstaunliche ist, daß sie nicht vergißt, wer ich bin, obwohl sie mich doch nur zweimal im Jahr sieht.«
»Das Erstaunliche ist«, entgegnete der Wachtmeister mit bemerkenswerter Heftigkeit, »daß diese Bilder…«
»Ach ja, ich dachte mir schon, daß sie Ihnen gefallen würden. Haben Sie verstanden, wer die Personen sind?«
»Ich habe die Marchesa erkannt…«
»Ah, das Foto. Also, die Fotos an dem Teil der Wand sind alle von ihr. In verschiedenen Lebensphasen. Ihr Hochzeitsfoto, haben Sie das auch gesehen? Keine Heiligen, sondern Ulderighi. Die Fotografien sind zum Teil so alt, wie sie überhaupt sein können, und bei den übrigen handelt es sich um Reproduktionen von Ölgemälden und so weiter. Wenn sie wirklich in Fahrt kommt, dann ist sie völlig überzeugt davon, daß sie die gesamte Sippschaft der letzten neunhundert Jahre aufgezogen hat. Einmal, als sie bei klarem Verstand war, hat sie mir erzählt, daß ihre Mutter die Amme eines Ulderighi war – hab den Namen im Moment vergessen –, so daß sie in dem Haus aufwuchs und schon mit acht Jahren als Kindermädchen arbeitete. Sie ist einundneunzig und hat nie woanders gelebt als in diesem Haus, aber dafür weiß sie über alles Bescheid, was hier passiert ist. Es ist sehr schade, daß sie so gaga ist, denn sie ist eine Goldmine an Informationen, wenn man nur an sie herankommt. Sie hat Catherine ein paarmal sehr geholfen, denn sie wußte sehr viel besser als La Ulderighi oder sonst jemand, wie viele Kisten und Schachteln mit Dokumenten und Büchern im Keller gewesen sein mußten und was in ihnen enthalten war. Ich meine, nach der Hochwasserkatastrophe.«
Sie waren am Brunnen stehengeblieben und hatten, in ihr Gespräch vertieft, nicht bemerkt, daß Grillo, der Zwerg, sie von der im Schatten liegenden Kolonnade aus beobachtete.
»Aber das ist doch bestimmt schon zwanzig Jahre her?« sagte der Wachtmeister.
»Stimmt. Catherine findet aber noch immer irgendwelches Zeug, und sie schätzt, daß es noch Jahre dauert, bis die Restaurierungsarbeiten beendet sind. Niemand weiß ganz genau, wieviel verlorengegangen ist, dieser Keller ist ein einziges Labyrinth. Sie würden es nicht glauben.«
»Diese Sache mit den Familienfotos hätte ich auch nicht geglaubt, wo wir schon beim Nicht-Glauben sind, ganz abgesehen von diesen blutrünstigen Geschichten, aber ich vermute, sie hat es aus den Zeitungen.«
»Zeitungen und Bücher und natürlich Hörensagen.«
»Das dachte ich mir
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