Tod im Palazzo
jetzt – Mücke. Das war eine ganz andere Geschichte.
Er wird angeheuert, falls irgend etwas zu erledigen ist… Also, wer hat ihn angeheuert? Wofür? Wer kannte ihn womöglich? Der Wachtmeister glaubte, zumindest auf die letzte Frage die Antwort zu wissen. Der einzige im Palazzo Ulderighi, der Mücke wahrscheinlich kannte, war Leo. Die beiden… was sollten sie erledigen? Nur eine Leiche wegtransportieren? Das hätte Leo allein geschafft. Wie schwierig wäre es für zwei bullige Männer, den Selbstmord eines dritten vorzutäuschen? Dicht neben dem Gesicht des Wachtmeisters hielt Lucrezia den Rosenkranz in ihren zarten, weißen Fingern, die Augen zum Himmel erhoben, ohne die Erscheinung zu bemerken, der die sterbende Nonne die schwachen Arme entgegenstreckte.
»Gehet hin in Frieden.«
»Wir danken dir, Herr.«
Recht so, wir danken dir, Herr, dachte der Wachtmeister, dehnte die steifen Knochen und bedeutete seinem jungen Kollegen mit einer Kopfbewegung, die Kapelle vor dem Sarg zu verlassen. An der Tür angelangt, holte er seine Sonnenbrille heraus, die ihn vor dem gleißenden Sonnenlicht draußen schützen sollte. In dem Moment knurrte sein Magen deutlich hörbar. Er verstand nicht, warum er schon vormittags einen so starken Appetit hatte, doch dann wurde ihm die Verbindung zur Messe klar. Er war jemand, der ausgesprochen gern zu Hochzeiten, Beerdigungen und Taufen ging, derlei Dinge aber seiner Frau überließ, doch der regelmäßige Besuch des sonntäglichen Gottesdienstes hatte ihn geprägt. Jahrelang hatte er bei der Entlassungsformel Gehet hin in Frieden an den Kaninchenbraten mit der schweren, aromatischen Sauce denken müssen, der zu Hause auf dem Tisch stand. Das Leben war doch seltsam. Hier stand er, verfolgt von Alpträumen, in denen es um die Beerdigung Corsis ging, und während der Sarg ungeschickt auf den Leichenwagen gehoben wurde, mußte er an den Kaninchenbraten denken.
Obwohl er nach der Eiseskälte in der Kapelle dankbar war für die Wärme draußen auf der Straße, war sein Auto, für das er keinen schattigen Parkplatz hatte finden können, dermaßen aufgeheizt, daß er und sein Kollege die Fenster eiligst herunterdrehten. Bis zum Friedhof war es nicht weit. Corsi sollte in San Miniato begraben werden, auf dem zweifellos exklusivsten Friedhof der Stadt hoch oben über dem linken Arnoufer, neben der prächtig ausgestatteten Kirche, deren vergoldete Marmorfassade in der Vormittagssonne so hell glitzerte, daß sie fast unwirklich schien.
Der Wachtmeister stellte das Auto draußen vor dem hohen Tor an einer schattigen Stelle ab und beobachtete den Leichenwagen, der, gefolgt von den Autos der Trauergemeinde, auf dem breiten Schotterweg langsam hineinfuhr. Guarnaccia gab sich, was seine Rolle in diesem Spiel betraf, keinen Illusionen hin. Eine uniformierte Präsenz. Der Oberstaatsanwalt saß mit seinem Leibwächter in einer kugelsicheren Limousine, und hinter dem Auto des Erzbischofs folgten vier Beamte in Zivil. Dennoch war der Wachtmeister froh, anwesend zu sein, und zwar sichtbar. Dies war seine einzige Chance, die Familie Ulderighi komplett zu Gesicht zu bekommen, und diese Chance wollte er nutzen. Bis jetzt hatte man ihn auf Distanz gehalten, und es hatte ihn nicht einmal gestört. Seine Angst vor der Marchesa war viel zu groß gewesen. Nicht nur vor ihrem Einfluß und der Möglichkeit, daß sie ihm schaden könnte, sondern vor ihr persönlich. An jenem Tag, als er ihr von Corsis Tod berichtet hatte, hatte er direkt vor ihr gestanden, und doch hätte er hinterher nicht genau sagen können, wie sie aussah. Er hatte ihr Gesicht studiert, sogar ihre Gedanken und ihre Reaktionen registriert, aber ihre Präsenz hatte ihn dermaßen überwältigt, daß er jetzt nicht mehr wußte, ob sie helle oder dunkle Augen hatte.
»Du bleibst hier.«
Er ließ den Jungen im kargen Schatten einer Zypresse stehen. Und Neri, der Sohn. Er wollte ihn sich angucken und mit eigenen Augen sehen, ob er krank oder verrückt aussah oder beides. Gestern hätte er sich davor gescheut, doch heute war alles anders. Heute steckte in seiner Tasche ein Zettel, auf dem »Gualducci, Rolando, genannt Mücke« stand, und alles war anders.
Neben der Familiengrabstätte wartete ein Benediktinermönch auf die Ankunft des Trauerzuges. Er trug eine große schwarze Hornbrille, die ihm das Aussehen einer Eule gab, und sobald der Sarg in Sicht war, begann er geschäftig hin und her zu eilen. Ein, zweimal fiel sein Blick auf den
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