Tod im Palazzo
Bienenwachskerzen, die den in warmen Farben gemalten Figuren an der Wand etwas Lebendiges gaben. Das Fresko in der Nähe des Wachtmeisters war ihm zum größten Teil unverständlich, aber er schätzte, daß es sich um irgendeine Familienheilige der Ulderighi handelte, die auf ihrem Sterbebett Visionen gehabt hatte. Wer die Heilige war, die in einer Ecke des Schlafzimmers in Erscheinung trat, konnte er nicht erkennen, aber die Frau, die am Bett der Sterbenden den Rosenkranz betete, war zweifellos die berühmte Lucrezia. War die sterbende Frau demnach ihre Mutter? Nein, sie trug Nonnentracht. Eine Tante also, oder etwas ähnliches.
»Lasset uns beten.«
Der Wachtmeister senkte den Kopf. Er fror in seiner dünnen Sommeruniform, und daß draußen ein warmer Junitag war, konnte man sich hier kaum vorstellen. Hin und wieder ließ er den rechten Arm zur Seite sinken und strich über die Tasche, in der sich ein gefaltetes Blatt Papier befand. Er wollte nicht an die Notizen auf diesem Blatt denken, sondern sich nur vergewissern, daß es, für andere unsichtbar, an Ort und Stelle war. Er wollte nicht daran denken, weil er sich über die nächsten Schritte nicht im klaren war. Er brauchte Zeit, um in Ruhe darüber nachzudenken. Im Moment wollte er lieber an etwas anderes denken. Aber woran konnte er schon denken, angesichts dieses Sarges, in dem Corsi lag? Der monotone Singsang der Totenmesse bewirkte, daß sich seine Gedanken in unaufhörlichen Kreisen verloren. Die Leiche, in ihrem letzten Ruheplatz festgenagelt, der Alptraum jenes Körpers, dessen Gliedmaßen nicht zur Ruhe kamen, die Augen, die ihn beobachteten, das Paket mit den Kleidungsstücken, mit dem alles angefangen hatte, die Schuhe. Er hatte recht gehabt, es zuerst jedenfalls noch geglaubt, als der Telefonanruf kam.
Also, Sie hatten recht. Er ist dort hingetragen worden. Schön polierte Schuhe, eindeutige, klare Fingerabdrücke. Mein Kompliment! Aber was die andere Sache angeht, da haben Sie sich geirrt.
Welche andere Sache? Es gab keine andere Sache. Ich wollte nur Fotos von den Fingerabdrücken haben.
Tja, genau darum geht es. Oh, sicher. Sie haben gesagt, holen Sie die Abdrücke ab, es hat keinen Zweck, sie über Computer durchzugeben. Also, genau das hab ich getan. Es hat keinen Sinn, eine Sache nur halb zu erledigen. Wenn es nichts gibt, dann gibt es nichts. Aber es gab sehr wohl etwas. Der Bursche hat ein ellenlanges Strafregister.
Aber er kann nicht… Ach nein? Diebstahl, Körperverletzung, schwerer Raub, ein zweitesmal Körperverletzung, und ein schöner Fall von Raub in Tateinheit mit Vergewaltigung. Ich sollte hinzufügen, daß unser Freund kein Dieb ist. Er wird angeheuert, falls irgend etwas zu erledigen ist, und er erledigt das meist auch. Einer von diesen Schlägern, denen es Spaß macht, verstehen Sie?
Ja… ja, aber ich verstehe nicht… Bekannt unter seinem Spitznamen Mücke. Mücke?… Ich dachte »Das Baby«.
Das Baby? Das ist der Fußballspieler. Den kennt jeder! Er hat kein Strafregister – nicht, daß er keins verdient hätte, aber dann würde er aus der Mannschaft raus fliegen, so ist er immer beschützt. Er läßt sich nicht auf so brutale Geschichten ein wie Mücke, höchstens eine gelegentliche Schlägerei, eine Handgreiflichkeit auf dem Spielfeld. Nein, nein, diese Fingerabdrücke gehören Mücke, richtiger Name Rolando Gualducci. Ich habe seine Akte noch nicht vollständig gelesen, man würde den ganzen Tag brauchen, aber der Mann ist ein Killer, der Besitzer dieser Schuhe dürfte nach einer Begegnung mit ihm ziemlich übel zugerichtet worden sein. Oder gehören sie zu ihm? Würde nicht seinem Geschmack entsprechen.
»Herr, gib ihm die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihm…«
Die Messe näherte sich ihrem Ende.
Der Wachtmeister hatte seinen Kollegen nicht aufgeklärt. Er hatte selber Aufklärung nötig. Es war ein Schock. Aber warum war es solch ein Schock? Er hatte angenommen, daß es Leo, der Portierssohn, gewesen war, der Buongianni Corsi an den Füßen weggeschleppt hatte, aus welchem Grund auch immer, was immer er Corsi zuvor angetan haben mochte. Statt dessen war es ein gewisser Rolando Gualducci gewesen. Welchen Unterschied machte das? Er sah sich um, und da wußte er es. Die Familie. Der Hauskaplan, die Familienkapelle, die Faktoten. Es wäre naheliegend gewesen, wenn Leo mitgeholfen hätte… bei dem, was passiert war, selbst bei einer so relativ harmlosen Sache wie dem Vertuschen eines Selbstmords. Aber
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