Tod im Weinkontor
Wohin? Hatten sie ihn erreicht? Schwebten sie
vielleicht gar in Gefahr? Andreas lief die Bursgasse bis zur
Minoritenstraße hinunter und folgte dieser einige Schritte
in Richtung Rhein. Er hatte keine Ahnung, was er nun tun sollte.
Er blieb stehen und biss sich vor Sorgen auf die
Fingerknöchel. Es waren nicht mehr viele Leute auf der
Straße; ein abgerissener Junge trieb eine kleine Herde
magerer Schweine die Minoritenstraße hoch, einige
Mägde huschten auf hohen hölzernen Trippen umher, weil
sie sich die kostbaren Schuhe nicht durch den Schmutz der
Straße ruinieren wollten. Sie trugen große Eimer und
waren sicherlich auf dem Weg zu den Brunnen der Stadt. Alles
wirkte so normal, doch irgendwo im Labyrinth der Straßen
und Gassen ging etwas vor sich. Irgendwo befanden sich Elisabeth
und Anne auf der Suche nach dem schattenhaften Mörder.
Was war, wenn der Mörder wirklich nur ein Schatten war?
Ein Schatten aus der Unterwelt? Wenn es stimmte, dass Ludwig
Verkehr mit den bösen Geistern gepflegt hatte?
Andreas blieb stehen. Die schwarzen, lichtlosen Häuser
schwiegen ihn an. Finsternis schwebte auf leisen Flügeln
herbei, nistete zwischen Kaminen, Giebeln, Hauswänden, der
Abendstern glühte über der Kirche der Franziskaner auf.
Manchmal stellte sich Andreas vor, die Sterne seien die Augen
Gottes oder die Fenster zum Himmelreich. Er schaute nach oben.
Immer mehr Lichtpunkte erschienen. Und hier unten wurde es immer
düsterer.
»Andreas!«
Er drehte sich um. Und atmete auf. Es waren Elisabeth und
Anne, die mit flatternden Röcken auf ihn zuliefen. Ihre
hellen Kleider waren wie Sterne in der Nacht der Stadt.
Außer Atem stellte sich Elisabeth vor ihn. Ihre Wangen
waren gerötet, ihre grünen Augen weit, mit großen
Pupillen, die schwarz wie der Himmel waren.
»Es war Dulcken«, sagte sie. »Er hat mich
erkannt und ist uns entwischt. Es tut mir so Leid.« Sie sah
schuldbewusst drein.
»In welche Richtung ist er gelaufen?«, fragte
Andreas. Ihm war wieder so leicht ums Herz. Elisabeth war nichts
geschehen, Gott sei Dank! Am liebsten hätte er sie
umarmt.
»In Richtung Norden, die Breite Straße hinunter,
und dann war er plötzlich verschwunden, nachdem er bemerkt
hatte, dass wir ihn verfolgen«, sagte Elisabeth. Anne
nickte und fügte hinzu: »Es war, als habe er sich in
Luft aufgelöst.«
Andreas ging mit den beiden Frauen durch die zunehmende
Dunkelheit zurück in die Bursgasse. An der Tür des
Pastorats verabschiedete er sich von ihnen. »Ich habe noch
etwas zu erledigen«, sagte er und sah Elisabeth und Anne
nach, wie sie hinter Grete im Innern des dunklen Hauses
verschwanden.
Noch war die Breite Straße nicht mit der Kette
versperrt. Andreas hastete über die vielen Pfützen, in
denen sich der Mond spiegelte, der nun wie ein Wächter der
nächtlichen Geheimnisse über den Dächern
stand.
Die erste Straße links, die erste rechts: die
Glockengasse. Vielleicht hatte er Glück. Es war eine von
vielen Möglichkeiten, wohin Dulcken geflüchtet sein
konnte.
Das prächtige Giebelhaus der Leyendecker’schen
Familie fing in seinen Glasfenstern die Sterne ein, zeigte aber
dem Mond den Rücken. Wie weiße Augen schauten die
Himmelslichter aus den Fenstern. Hinter einem von ihnen, im
ersten Stock, brannte ein Licht; ansonsten war alles still in
diesem hohen Steinhaus mit seinen Rundbögen,
Blendsäulen und Giebeln.
Das Tor zum Hof war noch nicht geschlossen. Andreas
schlüpfte in die Schatten der Durchfahrt. Vor ihm erhob sich
das Lagerhaus. Der schlichte, aber ausladende Backsteinbau war
wie ein schwarzer Tierkörper. Das Gebäude wirkte auf
Andreas wie etwas Totes. Die vielen Weinfässer darin waren
eine flüssige Erinnerung an den Herbst des vergangenen
Jahres, das Blut der verflossenen Tage.
Er machte einige Schritte in den Hof. Ein matter Schimmer
drang von der Straße her, Schritte hallten an den
Hauswänden entlang. Ein Schatten folgte einem Leuchtmann,
ein größerer Schatten glitt hinter den beiden an den
Häusern entlang, als wache er über die kleinen,
zerbrechlichen Menschlein. Sie gingen am Durchgang vorüber;
die Nacht floss hinter ihnen her. Bald waren auch ihre Schritte
verhallt.
Andreas zog den Kragen des Priesterrocks enger um den Hals. Es
war kalt geworden in dieser Frühlingsnacht. Er sah sich um.
Was wollte er hier überhaupt? Hatte er wirklich erwartet,
Dulcken auf diesem Grund und Boden zu finden? Andreas wollte
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