Tod in Innsbruck
erzählte, dass sie zu dem Holzstoß gegangen war, weil dort viele Rindenstücke herumlagen, die sie zum Basteln brauchte. Als sie mit einem Stock die Brennnesseln zur Seite bog, sah sie eine Hand. Sie schrie und rannte zu den Lehrerinnen. Sonst hatte sie nichts beobachtet, keine verdächtige Person, niemanden. Auch den anderen Kindern war nichts aufgefallen.
Das Mädchen fragte, ob er ein richtiger Polizist sei, wem die Hand gehöre und ob er sie wieder ganz machen könne. Sie sah ihn aus ihren großen Kulleraugen an. Er hätte gern etwas Tröstliches gesagt und war sich hilflos vorgekommen, weil ihm keine altersgerechten Worte eingefallen waren.
Vielleicht doch gut, dass Thea keine Kinder bekommen konnte. Wenigstens ist mir das Versagen als Vater erspart geblieben.
Wieder klopfte es.
»Herein!«, rief er ungeduldig.
Es war Linda, die ihm mit einem Lächeln den Espresso und die Golatsche servierte.
»Danke, Linda.« Woher nahm sie nur ihre unerschütterliche Freundlichkeit, obwohl er sie immer wieder anfauchte und seine schlechte Laune an ihr ausließ?
Hoffentlich hat sie einen netten Freund, einen, der ihre menschlichen Qualitäten zu schätzen weiß.
Genüsslich biss er in das süße Teilchen, kaute und spülte mit einem Schluck Kaffee nach.
Zum dritten Mal klopfte es.
»Kruzifixsakrament!«, brüllte er. »Kann man nicht einmal in Ruhe nachdenken?«
Wurz trat ein und lächelte wieder sein dämliches Karrierelächeln.
»Sagen S’ nicht, dass Sie mit den vermissten Männern schon fertig sind!«
»Hat sich erübrigt, Chef.« Sein Grinsen wurde breiter. »Der Prantl hat angerufen.«
Heisenberg klopfte mit dem Bleistift auf die Tischplatte. »Und? Lassen Sie sich nicht alles aus der Nase ziehen.«
»Das Alter des Opfers schätzt er auf sechzig bis fünfundsiebzig Jahre. Er hat eine Arthritis festgestellt. Außerdem handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um eine Frau.«
»Ist das wahrscheinlich oder ist es sicher? Ist die DNA-Analyse etwa schon fertig?«
»Nein. Ganz sicher ist es nicht.«
Heisenberg schnaubte. »Dann lassen Sie sich nicht aufhalten und recherchieren S’ weiter. Vermisste Männer in Bayern, Südtirol und Österreich.«
Wurz tat, als hätte er ihn nicht gehört. Er trat ans Fenster und sah hinaus. »Eigentlich wissen wir doch schon einiges.«
»Ja, freilich. Fehlt nur die Identität des Opfers und die des Mörders. Aber das sind ja Kinkerlitzchen, was?«
Wurz reagierte nicht auf Heisenbergs Zynismus. Er schaute in die untergehende Sonne, als hätte er den Fall schon gelöst. Die Szene erinnerte Heisenberg an diese Fernsehserie, von der Wurz so schwärmte: CSI Miami. Wenn Lieutenant Caine die Sonnenbrille aufsetzte und auf die Skyline von Miami blickte, die im Licht der untergehenden Sonne aufleuchtete, wirkte er genauso selbstzufrieden und eitel wie Wurz jetzt. Nur dass die Aussicht aus Heisenbergs Büro sich auf die graue Fassade des Gasthof Innrain beschränkte, hinter der man den Patscherkofel erahnen konnte. Oder auch nicht.
FÜNF
Kaum hatte Robert die Tür zum Blue Note geöffnet, tauchte er in die Atmosphäre von gedämpftem Licht, Gläserklirren und schrägen Akkorden ein wie in eine exotische Welt, in der die Zeit langsamer lief und Stress ein unbekanntes Wort war. Er schlenderte an die Bar, bestellte ein Hefeweizen und sah sich um. Das Jazzcafé war brechend voll, vermutlich weil nach längerer Urlaubspause wieder Luca Briguglia am Flügel saß. Robert mochte Lucas opulente Harmonien und seinen spielerischen Hang zur Virtuosität. Und natürlich faszinierte ihn immer wieder, dass der Sizilianer so souverän über das Reich der Tasten herrschte, ohne sie zu sehen.
Nach seinem Vierundzwanzig-Stunden-Dienst-Marathon erfrischte ihn der erste Schluck Bier wie ein Bad in einem Gebirgsbach. Genießerisch schloss Robert die Augen.
Als er sie wieder aufschlug, sah er sie. Er erkannte sie an den Haaren, die genauso zerzaust aussahen wie letzte Woche, als sie im Klinikkorridor auf Paul und ihn zugerollt war: Vera Meyring. Eine unförmige Kellnerinnengeldtasche war um ihren Bauch geschnallt, und sie trug violette Plateausandalen. Robert konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Die meisten Frauen hätten mit solchen Schuhen nuttig ausgesehen. An Veras Riesenfüßen wirkten sie komisch. Als wollte sich die Trägerin über sich selbst lustig machen. Geschmeidig fädelte sie ihren schmalen Körper zwischen den Tischen hindurch und balancierte ein Tablett mit leeren
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