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Tod in Innsbruck

Tod in Innsbruck

Titel: Tod in Innsbruck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Avanzini
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weit nach Mitternacht, als er sich als einer der letzten Gäste auf den Heimweg machte. Seine Knie gaben bei jedem Schritt nach, und auf seinen Lippen lag ein Dauergrinsen, das vermutlich ziemlich dämlich aussah. Wie er den Mut aufgebracht hatte, sie anzusprechen, wusste er nicht mehr. Er sah noch immer ihre Augen vor sich, schimmernd wie der Lansersee im Abendlicht. Sie hatte erzählt, dass sie heute eine Wohnung und einen Job gefunden hatte. Und hatte sich wie ein Kind gefreut, dass ihr alter Freund Jochen extra zu diesem Anlass nach Innsbruck gekommen war, um mit Luca und ihr zu spielen. Auf Roberts Frage, ob sie professionelle Musikerin sei, lachte sie und gab zu, dass es ein verlockender Gedanke wäre, das Medizinstudium zugunsten einer Gesangsausbildung an den Nagel zu hängen. Sie entdeckten, dass sie dieselben Jazzsängerinnen mochten. Als sie sich ausführlich über Billie Holiday unterhielten, begannen Roberts Nasenflügel zu zittern, wie immer, wenn ihn etwas erregte. Er hatte gehofft, dass es ihr nicht auffallen würde, im selben Augenblick waren ihm seine Gefühle und seine Unsicherheit unsagbar blöd vorgekommen.
    * * *
     
    Als er am nächsten Vormittag erwachte, geisterte die Melodie von »Summertime« in seinem Kopf herum, und er fühlte sich, als hätte er die Nacht singend verbracht. Seine Gedanken kreisten um den gestrigen Abend. Erst nach der dritten Tasse Schwarztee fiel ihm ein, was er sich für seinen heutigen freien Tag vorgenommen hatte. Und sein Lächeln löste sich auf wie eine Luftspiegelung. Er atmete tief durch, nahm den Autoschlüssel und schlug die Tür hinter sich zu.
    Je mehr er sich dem O-Dorf näherte, je schäbiger die Hochhäuser wurden und je häufiger die Wettbüros, umso leichter fiel es ihm, nicht mehr an Vera zu denken. Sondern an Brigitte. An ihren säuerlichen Mundgeruch, wenn sie wieder getrunken hatte. An die muffige, dunkle Wohnung und die hilflosen Gesten ihrer Mutter.
    Er musste zweimal klingeln, ehe sie ihm die Tür öffnete.
    »Hallo, Brigitte. Wie geht’s dir?«
    Sie hob die Hand, als scheuchte sie eine Fliege aus ihrem Gesicht. Wortlos drehte sie sich um und ging in ihr Zimmer.
    Robert folgte ihr.
    »Ich wollte fragen, ob alles in Ordnung ist.«
    Sie setzte sich vor die Staffelei und kehrte ihm den Rücken zu. Ihr Haar sah strähnig aus.
    »Gefällt es dir?«, fragte sie, ohne sich umzudrehen.
    »Was meinst du?« Robert betrachtete die weiße Leinwand. Erst als er ganz nahe an das Bild herantrat, erkannte er unzählige cremefarbene Striche, so winzig wie Ameisenbeine. Sie waren unregelmäßig über das ganze Bild verteilt. »Was ist das?«
    »Gott?« Sie stieß ein hysterisches Lachen aus und wandte ihm endlich den Kopf zu.
    Robert seufzte. Wehmütig dachte er an die großformatigen Porträts in Öl, die sie früher gemalt hatte, an ihre ebenso boshaften wie witzigen Karikaturen. Er musterte ihr aufgedunsenes Gesicht, die geplatzten Äderchen, die wie winzige Spinnennetze ihre Haut durchzogen, die gelb verfärbte Bindehaut.
    Chronische Leberschädigung.
    Als die nächste Lachsalve Brigittes Mund verließ, wehte Robert Schnapsgeruch entgegen.
    »Es ist zehn Uhr am Vormittag, und du hast schon wieder getrunken.«
    »Natürlich! Es inspiriert mich.«
    »Wenn du so weitermachst, wird die Zirrhose nicht mehr lange auf sich warten lassen.«
    »Na und? Was geht es dich an?«
    »Als du letzte Weihnachten mit einer Alkoholvergiftung in die Klinik eingeliefert worden bist, hast du mich angefleht, dir zu helfen. Hast du das vergessen?«
    »Das war mein Weihnachtsgeschenk an dich. Ich wollte dir eine Freude machen, damit du dein Helfersyndrom ausleben kannst.« Wieder lachte Brigitte, dann begann sie zu husten.
    »Rede keinen Unsinn!«
    »Ich sehe es an deiner Nase. Sie zuckt, wenn der Helfertrieb ausbricht. Oder wenn du verliebt bist. Im Moment zuckt sie wie verrückt.«
    Robert fühlte, wie eine Hitzewelle über seine Wangen leckte. Seine Haut brannte bis unter die Haarwurzeln. Rasch wandte er sich ab.
    »Jetzt bist du knallrot geworden. Aha! Das ist es also! Du bist verliebt.«
    »Hör auf damit. Sag mir lieber, wo deine Mutter ist. Ich habe gestern und vorgestern ein paarmal angerufen und niemanden erreicht. Sie geht doch sonst immer ans Telefon.«
    »Wer ist es? Kenne ich sie?« Brigitte erhob sich. Erstaunlicherweise wankte sie nicht, sondern stand kerzengerade vor ihm, als wäre sie schlagartig nüchtern geworden. Ihre Pupillen flackerten, ein fiebriger Glanz lag

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