Tod in Innsbruck
umfasste den grünen Stein, der an ihrem Hals baumelte. »Gesangsunterricht ist etwas sehr Intimes. Große körperliche Nähe ist erforderlich. Manche Kollegen sind da anfällig für gewisse Reize. Der arme Rudi zum Beispiel. Und manche Studentinnen und Studenten wissen das und nützen es aus.«
»Willst du sagen, das arme Schwein wird von seinen Schülern verführt und kann sich nicht dagegen wehren?« Vera erschrak selbst, wie schneidend ihre Stimme klang.
Joyce schüttelte sich. »Mit dir ist nicht gut Kirschen essen, Honey, wenn du dich aufregst.« Sie wiegte den Kopf. »Leute wie René sind berechnend. Sie versprechen sich ein Diplom mit Auszeichnung, Starthilfe für ihre Karriere, was weiß ich. Dafür tun sie alles. Und Rudi steht nun mal auf ihre knackigen Hintern.«
»Und was, wenn der knackige Hintern, auf den Rudi steht, einem Musikgymnasiasten gehören würde? Einem Vierzehnjährigen?«
Joyce starrte Vera entgeistert an. »Das wäre allerdings strafbar. Und deshalb würde Rudi das niemals tun. Dafür ist er viel zu ängstlich.«
Vera schwieg. Ihre Rechte krampfte sich um den leeren Kaffeebecher, der sich knirschend verformte.
»Gibt es unter deinen Kollegen welche, die nicht so ängstlich wären?«, fragte sie leise.
Mit einem Mal sah Joyce müde aus. Sie erhob sich. »Ich muss jetzt gehen, Honey. Wir sehen uns dann nächste Woche.«
»Wiedersehen. Und danke.«
Vera starrte ihr nach.
Was war in Bologna mit Isa passiert? Wenn Joyce die Wahrheit gesagt hatte, schied René als Täter aus. Und ebenfalls sein Gesangslehrer, der sich offensichtlich lieber mit Knaben vergnügte. Dann blieb nur noch Isas Klavierlehrer, Sergej Sofronsky, von dem sie immer in den höchsten Tönen geschwärmt hatte. Unvorstellbar. Oder der Korrepetitor, Herr Lehmann, ein unbeschriebenes Blatt.
Natürlich konnte es genauso gut ein Fremder gewesen sein. Irgendein Hotelgast zum Beispiel. Ein Unbekannter, den Vera nie ausfindig machen würde.
Außerdem bestand die Möglichkeit, dass Sarah sich geirrt hatte. Vielleicht war in Bologna gar nichts passiert. Je länger Vera grübelte, umso wahrscheinlicher erschien ihr, dass alles bereits viel früher begonnen haben musste.
Schritte näherten sich und rissen Vera aus ihren Gedanken. Ein zierliches Mädchen mit Zöpfen kam aus dem dritten Stock heruntergehopst und näherte sich der Cafeteria. Sie hatte eine alte Lederschultasche unter ihren Arm geklemmt und nickte Vera zu. Dann warf sie eine Münze in den Automaten und drückte einen Knopf.
Vera erhob sich, immer noch halb in ihrer Grübelei gefangen. Als sie schwungvoll einen Stuhl umrundete, stieß sie gegen die Kleine, die stolperte und kurz aufschrie. Der dampfende Becher fiel ihr aus der Hand. Sein Inhalt ergoss sich über den Sessel, auch Veras Jeans bekamen einige Spritzer ab.
Die kobaltblauen Augen des Mädchens blitzten auf.
Vera schlug die Hand vor den Mund. »Mist! Wie kann man nur so ungeschickt sein!« Sie bückte sich, hob den leeren Becher auf und warf ihn in den Eimer. »Entschuldige bitte. Hast du dir wehgetan?«
»Halb so schlimm. Nur schade um den Kakao.« Ein halbes Lächeln stahl sich auf die Lippen des Mädchens. Doch ihre Augen funkelten noch immer wütend.
»Wenigstens hat er nicht dein schickes Shirt bekleckert.«
»Nein, aber deine Jeans.«
»Ich heiße übrigens Vera.«
»Mette.« Zögernd legte sie ihre Hand in die von Vera, ohne den Druck zu erwidern.
»Darf ich dich in irgendein Kaffeehaus einladen? Als Wiedergutmachung?«
»Das ist doch nicht nötig.«
»Es würde mir Spaß machen. Hast du Zeit?«
»Eine Dreiviertelstunde. Dann muss ich zur Probe.«
»Prima. Kennst du ein nettes Café in der Nähe? Ich bin nämlich neu hier.«
Kurz darauf saß Vera in einem gläsernen Würfel mit dem schlichten Namen »Pavillon«, einer Kombination von Kaffeehaus und Feinschmeckerrestaurant, und blickte auf die Säulen des benachbarten Landestheaters. Sie stürzte ihren Espresso hinunter, während das Mädchen mit den Zöpfen erzählte. Mette Kindler war Pianistin, Schülerin von Sergej Sofronsky und sechzehn Jahre alt, wie Isa. Mit ihrer Kleinmädchenfrisur und dem pinkfarbenen T-Shirt hätte Vera sie für dreizehn gehalten. Doch Mette kicherte nicht, sie errötete nicht, sie gab sich wie eine perfekte Erwachsene. Eine Erwachsene, die im Körper eines Kindes steckte.
Vor einem Jahr war sie aus Wien nach Innsbruck gekommen und lebte jetzt bei ihrer verwitweten Tante in einer alten Villa auf
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