Tod in Innsbruck
Herzensbrecher.«
Vera hob eine Braue. Zwar stimmte der Eindruck, den sie bisher von Luca gewonnen hatte, mit dieser Äußerung überein, aber sie fragte sich, ob die Jameson das aus eigener Anschauung wusste.
»Wie auch immer. Lucas musikalisches Urteil ist unantastbar.« Joyce schnippte sich eine ihrer rotblonden Locken aus der Stirn. »Wenn er meint, ich soll dich anhören, dann werde ich mir das nicht entgehen lassen. Welchen Standard willst du singen?«
»Wie wär’s mit ›Misty‹?«
Sie einigten sich auf eine Tonart, und, ohne zu zögern, spielte Joyce die Eingangsakkorde.
»Look at me …« Anfangs klang Veras Stimme belegt. Sie sprach nicht so an, wie sie es gewohnt war. »… I’m as helpless as a kitten up a tree.«
Joyce begleitete sparsam, traf die richtigen Akkorde und sorgte für den Groove, über dem Vera sich frei entfalten konnte, ohne dass diese Freiheit zum Zerfall führte.
»And I feel like I’m clingin’ to a cloud, I can’t understand I get misty just holding your hand.«
Sie fühlte sich immer wohler. Die Nervosität hatte sich gelegt, die Phrasen flossen wie von selbst aus ihr heraus. Fast wie am Montagabend im Blue Note, als Jochen und Luca sie begleitet hatten.
Noch ehe der Schlussakkord verklungen war, sprang Joyce vom Klavierhocker auf, packte Vera an den Oberarmen und drückte sie.
»Bravo, Herzchen! Eine reife Leistung für eine Autodidaktin.« Sie wirbelte herum und begab sich zu ihrem Schreibtisch. Zückte ein Notizbuch.
»Ich möchte dich gern unterrichten. Wann fangen wir an? Wie wär’s mit Dienstag, zwölf Uhr?«
»Muss ich nicht zuerst eine Aufnahmeprüfung machen?«
»Natürlich. Im September. Und bis dahin solltest du drei klassische Lieder und eine Arie einstudiert haben. Ich helfe dir dabei. Zwar sind von Anfang Juli bis Ende September Ferien, aber ich verbringe höchstens ein, zwei Wochen auf Guernsey. In der übrigen Zeit bin ich bereit, mit dir zu arbeiten.«
»Aber … ich …« Vera spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss, bis unter die Haarwurzeln.
»No money, Honey?« Joyce rieb mit dem Daumen über Zeige- und Mittelfinger.
»Ich arbeite als Kellnerin im Blue Note. An fünf Abenden die Woche. Das reicht für Miete und Essen, aber nicht für Privatstunden, fürchte ich.«
»Mach dir keine Sorgen. Ich verlange nichts.«
»A…«
»Kein Aber. Ich habe selbst schwere Zeiten erlebt, als ich jung war. Damals hat mir niemand geholfen.« Joyce schüttelte den Kopf. »Ich habe mir geschworen, dass ich das anders halte, sobald ich es mir leisten kann. Außerdem macht es mir einfach Spaß.« Ihr Lächeln begann in den Augenwinkeln, die unzählige feine Fältchen bis zu den Ohren schickten.
Vera schluckte ihren Stolz hinunter. »Okay«, sagte sie und lächelte zurück.
Nachdem Joyce ihr noch einige Atem- und Stimmübungen gezeigt und zwei Lieder ausgewählt hatte, begossen sie den Pakt in der Cafeteria im zweiten Stock der Musikakademie mit Kaffee aus dem Automaten. Bisher war alles so gut gelaufen, dass Vera beschloss, einen Schritt weiterzugehen.
»Ist René Beckmann auch ein Schüler von dir?«, fragte sie, obwohl sie es besser wusste.
Joyce runzelte die Stirn. »René, das Milchgesicht? Oh nein! Er ist in Rudis Klasse.« Sie verbesserte sich: »In Professor Schimaneks Klasse.«
»Ist er gut?«
»Hübsch und langweilig. Und so singt er auch. Knödelt, was das Zeug hält. Woher kennst du ihn?«
»Gar nicht. Eine Bekannte hat mir von ihm vorgeschwärmt. Er muss wohl ein ziemlicher Womanizer sein.«
Joyce schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, dass ihr Cappuccino überschwappte. »Ein Womanizer?« Sie lachte glucksend.
»Was ist daran so komisch?«
»René ist schwul.«
»Sicher?«
»Glaub mir, Honey, ich kenne mich da aus. Der hat in seinem Leben noch keine Frau scharfgemacht, höchstens den guten Rudi.«
»Professor Schimanek? Seinen Gesangslehrer?«
Joyce lächelte wieder ihr vielsagendes Lächeln.
»Heißt das, der Schimanek vernascht seine Studenten?«
»Entspann dich, Kind. Ja, ich denke, das tut er. Wenn es ihm angeboten wird. Keine schöne Sache, das finde ich auch, aber nicht verboten. René Beckmann ist Anfang zwanzig und erwachsen. Er wird schon wissen, was er tut.«
Zischend stieß Vera Luft durch die zusammengebissenen Zähne.
Ihre Gesangslehrerin warf ihr einen erstaunten Blick zu.
»Findest du es in Ordnung, wenn ein Lehrer das Abhängigkeitsverhältnis ausnützt und seine Schüler vögelt?«
Joyce
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