Tod in Innsbruck
aus Wien vorgestellt. Das blasse Geschöpf an ihrer Hand wirkte vollkommen lethargisch.
»Das ist meine Tochter Mette. Sie ist hochbegabt«, raunzte die Dame und setzte sich, ohne dass er sie dazu eingeladen hätte. »Sie hat vier Klassen übersprungen und mit vierzehn ihr Abitur gemacht. Mit Auszeichnung. Vor zwei Wochen hat sie das Konzertfachstudium an der Wiener Musikuniversität absolviert, ebenfalls mit Auszeichnung. Professor Kirilow hat mir geraten, sie soll unbedingt bei Ihnen weiterstudieren. Sie seien der Beste.«
»Der gute alte Branimir.« Sofronsky lächelte skeptisch. »Nun, ich schätze meinen Wiener Kollegen sehr, Frau Kindler, aber die Studienplätze in meiner Klasse sind begrenzt. Ich nehme nur die Talentiertesten. Ihre Tochter müsste mir schon etwas vorspielen.« Bis jetzt hatte das Mädchen ihn weder angesehen noch irgendeine Reaktion gezeigt.
Die Mutter schnaubte, legte ihre Hand auf Mettes Schulter und gab der Kleinen einen Klaps. Mette zuckte zusammen, dann setzte sie sich wortlos an den Bösendorfer. Sie begann mit der ersten Etüde aus Chopins Opus zehn. Schon nach vier Takten war Sofronsky gefangen von ihrem Spiel. Mit kindlicher Leichtigkeit und unglaublicher Meisterschaft hatte sie nicht nur die erste, sondern gleich alle zwölf Etüden gespielt. Danach war sie wie ein Schoßhund hinter ihrer Mutter aus dem Zimmer getrippelt.
Sofronsky betrachtete Mette von der Seite, und zum ersten Mal fiel ihm auf, dass das pinkfarbene Shirt sich über ihrer Brust wölbte.
Reiß dich zusammen. Er verschränkte seine Hände ineinander.
Inzwischen hatte Mette das Ende des zweiten Satzes erreicht. Sie tupfte die Schlussakkorde sanft auf die Tasten, wie mit Katzenpfötchen. Den letzten Ton – das hohe G – ließ sie hell herausleuchten. Er war das Signal zum Aufbruch in den rauschenden Finalsatz. Mit wellenartigen Bewegungen legte Mettes Rechte einen wunderbar flauschigen C-Dur-Teppich. Die Linke griff anmutig darüber und lockte die kinderliedartige Melodie aus der Klaviatur. Mette ließ es rauschen und klingeln, perlen und trillern. Sie genoss die emphatischen Oktaven zwischen dem zarten Pianissimogeplätscher und meisterte jede technische Schwierigkeit mit Leichtigkeit und einem Lächeln.
Sofronsky lauschte fasziniert. Im letzten Abschnitt des Satzes, der mit »Prestissimo« überschrieben war, schlug sie ein riskant schnelles Tempo an. Die berüchtigte Oktavenstelle, die allen Pianisten Respekt abnötigte, gelang ihr in diesem halsbrecherischen Tempo nicht perfekt. Sofronsky sah ihre zusammengebissenen Zähne und konnte das Brennen ihrer Unterarme beinahe am eigenen Leib spüren. Er unterbrach sie.
»In diesem Tempo kannst du die Oktaven nicht mehr aus dem Handgelenk schütteln. Niemand kann das. Versuch es doch im Glissando.« Er setzte sich an den zweiten Flügel und demonstrierte, wie sie ihre Hand halten und seitlich über die Tasten gleiten lassen musste. »Auf einem Hammerklavier aus Beethovens Zeit geht das natürlich leichter, doch auch auf einem modernen Bösendorfer ist es machbar.«
Mettes Augen wurden groß und rund, wie immer, wenn Sofronsky ihr etwas Neues zeigte. Ihr Mund stand offen, als müsste sie alle Informationen auf der Stelle einsaugen. Sofort versuchte sie das Oktavenglissando selbst. Beim ersten Mal übte sie zu wenig Druck auf die Tasten aus, die Töne sprachen nicht an. Beim zweiten Versuch drückte sie zu fest, die Ränder des Elfenbeinbelages schnitten in ihr Fleisch und hinterließen rote Abdrücke auf der Haut. Sie presste die Lippen zusammen und zog ungeduldig die Hand weg. Der dritte Versuch war erfolgreich. Lächelnd spielte Mette den Satz zu Ende.
»Wunderbar. So machst du es morgen im Konzert. Du wirst sehen, auf dem Graf-Flügel werden dir die Glissandi viel leichter fallen.«
»Aber der Klang! Kann der Klang vom Graf an einen Bösendorfer heranreichen?«
»Nicht, was das Volumen betrifft. Aber was Wärme, klangliche Vielfalt und Differenziertheit betrifft, ist der Graf dem Bösendorfer überlegen.«
»Darf ich den Hammerflügel vorher ausprobieren?«
»Natürlich. Morgen Vormittag. Ich spreche mit dem Kustos der Musiksammlung.«
»Danke, Herr Professor.«
Sofronsky lächelte. Sie war die einzige Schülerin, die sich nicht daran gewöhnen konnte, ihn beim Vornamen zu nennen. Er reichte ihr den Beethoven-Band, in den er mit Bleistift einige Anmerkungen gekritzelt hatte. Dabei berührte er versehentlich ihren Arm. Er zuckte zurück, als hätte er
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