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Tod in Innsbruck

Tod in Innsbruck

Titel: Tod in Innsbruck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Avanzini
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zerstückelt, um die Teile aus dem Haus zu schaffen, hatte die Wohnung sauber gemacht und kassierte nun die Rente. Vielleicht war die Frau sogar eines natürlichen Todes gestorben und lediglich entsorgt worden, ebendieser Rente wegen. Das wäre Heisenbergs bevorzugte Variante.
    Wurz dagegen schien zu hoffen, dass der Täter ein Serienkiller war, der bald wieder zuschlagen würde.
    Eine Mordserie kurz vor meinem Abgang, das hätte mir gerade noch gefehlt. Wo schon der grausame Fund an sich schlimm genug ist.
    Am Nachmittag hatte ihn die Bürgermeisterin angerufen und gedroht, sie würde ihm die Hölle heißmachen, wenn er ihre saubere Stadt nicht schnellstmöglich von dem Mörder befreite. Gut, die Bürgermeisterin war ihm wurscht, ehrlich gesagt. Aber der Polizeipräsident war es nicht. Und Heisenberg hätte wetten mögen, dass der Anruf des Präsidenten keine drei Tage auf sich warten lassen würde.
    Er erhob sich von seinem Schreibtisch und knipste die Lampe aus. Die Jacke warf er sich über die Schulter, die Aktentasche klemmte er unter den Arm.
    Während der ganzen Heimfahrt gingen ihm die Marillenknödel nicht aus dem Kopf. Gerade heute, wo er so heroisch auf seine Topfengolatsche verzichtet hatte, wären Marillenknödel, Theas Marillenknödel, ein Lichtblick gewesen.
    Als er seine Frau mit einem Kuss begrüßte und sich zerknirscht entschuldigte, stellte er erleichtert fest, dass sie weder sauer noch beleidigt war. Sie tätschelte ihm die Wange und servierte eine Portion dampfender, duftender Knödel. In braunen Bröseln gewälzt. Von wegen zerfallen!
    Mit Appetit machte er sich über den ersten her, bestreute ihn mit Zimtzucker, zerteilte ihn mit der Gabel. Innen leuchtete der Topfenteig weiß, nein, alabasterfarben wie … Wie Fliegenmaden. Schon flackerten die ersten Bilder auf. Das Gewusel der Madenleiber, die Gänge der Larven im faulenden Fleisch. Sein Magen krampfte sich zusammen.
    Er legte die Gabel weg und tupfte sich mit der Serviette die Stirn ab.
    »Schmeckt es dir nicht?«, fragte Thea.
    »Das … das ist es nicht. Es tut mir leid.«
    Er spürte ihren Blick wie einen Fühler über sein Gesicht tasten. Sie streckte ihre Hand aus, umschloss seine Rechte, drückte sie, einmal, zweimal. Er betrachtete die kleinen braunen Flecken auf ihrem Handrücken. Plötzlich erfüllte ihn der Wunsch, jeden einzelnen davon zu küssen. Aber Thea hatte ihre Hand schon weggezogen, hatte den Teller mit den Knödeln ergriffen und trug ihn hinaus.

SIEBEN
     
    »Nicht schlecht!«, sagte Sofronsky. »Gut, sogar ziemlich gut.« Phantastisch, dachte er. Nicht einmal die größten Beethoven-Interpreten wie Solomon, Emil Gilels oder Alfred Brendel hätten den ersten Satz der Waldsteinsonate besser spielen können. Er hatte absolut nichts auszusetzen. Natürlich würde er das nie zugeben, und so fügte er rasch hinzu: »Das Seitenthema hätte ich mir heller gewünscht. Damit es sich noch mehr vom unheimlichen Pochen des Hauptthemas abhebt. Wie wenn ein Sonnenstrahl die Wolkendecke durchbricht und die Schneekristalle einer Winterlandschaft zum Funkeln bringt.«
    Mettes Brauen hoben sich. Sie nickte.
    Sofronsky lehnte sich zurück und ließ seinen Zeigefinger kreisen. »Weiter, weiter.«
    Die Schultern senkten sich, als Mette ausatmete. Zugleich mit dem nächsten Luftholen schlug sie die ersten Töne des zweiten Satzes an. Sie begann leise und eindringlich, als erzählte sie ein Geheimnis. Mit Genugtuung bemerkte Sofronsky, dass sie die Pause auf dem ersten Taktteil, die die meisten Pianisten aus Angst vor dem Nichts verkürzten, um eine Winzigkeit länger einhielt als nötig. Das verlieh ihrer Interpretation Spannung und Tiefe. Er war begeistert. Mette Kindler war die begabteste Schülerin, die er je unterrichtet hatte. Neben ausgeprägtem Klangsinn verfügte sie über ein fotografisches Gedächtnis, das ihr ermöglichte, komplexe Kompositionen in kürzester Zeit auswendig zu lernen. Auch ihre Virtuosität war erstaunlich. Mit ihren sechzehn Jahren hatte sie schon alle Etüden von Chopin und Liszt studiert, außerdem einige von Skrjabin und Rachmaninow. Größere Schwierigkeiten hatte die Klavierliteratur kaum zu bieten.
    Vor genau einem Jahr hatte er sie zum ersten Mal gehört. Er erinnerte sich daran, als wäre es gestern gewesen. Eine zierliche Frau Ende dreißig, die eine aufdringliche Parfumwolke und ein Mädchen hinter sich herzog, war in sein Unterrichtszimmer gekommen und hatte sich in näselndem Tonfall als Frau Kindler

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