Tod in Seide
Beschützer gefunden. Als stellvertretender Abteilungsleiter hatte er sie von den üblichen Aufgaben einer Prozessanwältin entbunden und eine eigene Einheit für sie geschaffen, der sie nun vorstand. Die meisten von uns betrachteten es als eine Art Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Ihr Job war es, den Kontakt zur Personenfahndung der New Yorker Polizei zu halten und aktive Fahndungen nach den gefährlichsten der Tausenden von Angeklagten, die nach Festsetzung der Kaution nicht vor Gericht erschienen waren, einzuleiten und zu überwachen. Viele der Gefangenen, von denen Steckbriefe existierten, waren wegen Bagatelldelikten verurteilt worden und tauchten über kurz oder lang wieder wegen Ladendiebstahls oder Schwarzfahrens auf. Ellens Aufgabe bestand darin, sich die Gerichtsunterlagen genau durchzusehen, die schwereren Fälle herauszusuchen und dann Beamte der Personenfahndung auf die Täter anzusetzen.
Ich glaubte, dass McKinney diese Aufgabe für Ellen geschaffen hatte, da sie, auch wenn sie sonst nicht in unsere Abteilung passte, eine gute Anwältin und eine sympathische Person war. Ich hatte dem seit zwei Jahren kursierenden Büroklatsch, dass sie ein Affäre hätten, keine Beachtung geschenkt, aber jetzt schien es mir doch, als ob sie angesichts Ellens eher unwichtiger Arbeit ziemlich viel Zeit hinter verschlossenen Türen miteinander verbrachten.
Ich ging an meinen Schreibtisch zurück und suchte die Unterlagen zusammen, die ich mit zu McKinney nehmen wollte, um mit ihm die jüngsten Vernehmungen zu besprechen, die Mike und ich im Fall Caxton geführt hatten. McKinney winkte mir zu, als er an meiner Tür vorbeiging. »Wir müssen uns unterhalten.«
Die Unterlagen über den Fall passten mittlerweile nicht mehr in eine Mappe. Ich zog die Berichte der gestrigen Unterredungen aus der Mappe, nahm meinen dicken Notizblock und ging zu McKinneys Büro. Ich klopfte an die schwere Eisentür.
»Herein.« Ellens Stimme war nicht gerade die Begrüßung, die ich erwartet hatte.
Sie stand auf der anderen Seite des Zimmers, wo sie Teewasser aufgesetzt und ein Glas Honig aufgemacht hatte, und hielt zwei Becher in der Hand. McKinney saß mit dem Rücken zu mir in seinem Sessel und telefonierte. Für meinen Geschmack wirkte das ein bisschen zu vertraut.
»Wie geht es Mercer?«, fragte Ellen.
»Nicht so besonders. Es ging gerade noch einmal gut aus.«
»Sie müssen sich schrecklich fühlen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es Ihnen ergangen ist, als Sie ihn da liegen sahen.«
Ich nickte zögerlich und biss mir auf die Lippen. Ich hatte nicht vor, ihr irgendetwas über meine Gefühle zu erzählen. Stattdessen starrte ich auf McKinneys verschwitzten Rücken, als ob ich ihn damit dazu bringen könnte, das Telefonat schneller zu beenden.
»Möchten Sie Tee?«, fragte Ellen und hielt eine Kaffeetasse in die Höhe, die mit einem Foto von McKinneys Kindern unter dem Weihnachtsbaum bedruckt war.
»Nein, danke.« Als Antwort hob ich meinen Pappkaffeebecher hoch.
»Irgendwelche neuen Spuren?«
»Ich warte, bis Pat fertig ist.«
»Sind Sie diesen Sommer schon auf Martha’s Vineyard gewesen?«
»Mhm.« Wenn du bereit bist, mich über dein Privatleben aufzuklären, dann erzähl’ ich dir gerne von meinem.
»Sie sehen wirklich mitgenommen aus. Sie sollten einen Abdeckstift für die Schatten unter Ihren Augen verwenden. Vielleicht sollten Sie sich die nächsten zwei Wochen frei nehmen und auf die Insel fliegen.«
Frauen am Arbeitsplatz, seufzte ich im Stillen. Warum konnte ich Mike Chapman Recht geben, wenn er mir sagte, wie schlecht ich aussah, aber wenn Ellen mir dasselbe sagte, fand ich, dass es sich gehässig anhörte? Vielleicht könnte ich mir zwei Wochen frei nehmen, wenn ich hier so wenig gebraucht würde wie du, dachte ich. »Mir geht’s gut. Ich werd’s nächstes Wochenende ruhig angehen lassen.«
McKinney beendete sein Telefonat und setzte sich mir gegenüber an den kleinen Besprechungstisch. »Ich möchte mit Ihnen über den Fall reden, Alex – ich meine, die ganze Sache. Ich habe mir gedacht, dass es das Beste …«
»Pat, würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir das unter vier Augen besprechen?«
Ellen hatte das Wasser aufgegossen und drückte gerade die Teebeutel aus.
»Sie meinen Ellen? Sie leitet eine unserer Abteilungen. Wo ist das Problem?«
»Das ist eine Sache zwischen Ihnen und mir. Ich weiß, dass Sie für heute Vormittag um zehn Uhr ein Treffen anberaumt haben, zu dem ich nicht eingeladen
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