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Tod Live

Tod Live

Titel: Tod Live Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D.G. Compton
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Stirn.
    »Harry? Sind Sie noch da?«
    »Ich…« Natürlich war er noch da.
    »Nett von Ihnen, daß Sie angerufen haben, Harry. Wir behalten die Sache für uns, ja? Bis ich mir überlegt habe, was wir tun sollen.«
    »Natürlich. Aber wie wollen Sie…?«
    »Alter Knabe, überlassen Sie das mir. Und… Harry, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Sie haben absolut keinen Grund, sich Sorgen zu machen.«
    Er legte auf. Wenn Harry sich vorher keine Gedanken gemacht hatte, dann war er jetzt bestimmt besorgt. Vincent lehnte sich in seinen Sessel zurück und starrte an die Decke. Katherine Mortenhoe war abgesprungen, hatte sich außerhalb des Gesetzes gestellt. Das arme, verdrehte Ding hätte es besser wissen müssen. Männer wie Vincent und Firmen wie die NTV lassen sich nicht so einfach hereinlegen.
    »Dank der verdammten Demonstranten«, sagte Vincent, »kennt sie dich noch gar nicht. Du kannst dich ihr als Fremder nähern. Als Freund… Die Chance deiner Karriere.«
    Er sagte das bewußt knurrig. Wollte mir wohl Auftrieb geben.
    Als ich die Kirche am Coronation Square erreichte, war es schon spät, und ich war froh, daß mich mein abgetragener Anorak vor der Kälte des feuchten grauen Abends schützte. Jeans und Rucksack gehörten mir, ebenso wie die beiden alten Gartenpullover aus meiner Zeit mit Tracey, doch der Anorak war Vincents Einfall gewesen. Eine Assistentin hatte sich das Stück in der Kostümabteilung ausgeborgt. Es gab die Dinger dort in allen Größen und Farben und Zustandsformen, und ich hatte dafür in ihrem kleinen Buch quittieren müssen.
    Ich meldete mich in der Sakristei der Kirche – der Vikar winkte mich weiter und machte ein Zeichen auf einer Tafel – und folgte den Pfeilen zum Schlafraum. Hier brannten schon die Lampen, gelbe Birnen unter dünnen Schirmen an langen Schnüren. Ich entdeckte Katherine Mortenhoe sofort. Sie saß auf ihrem Bett, isoliert vom tonlosen Murmeln der anderen, isoliert durch ihre Probleme. Für die anderen existierte sie nicht. Dies war keine Randkommune; wenn man hier Probleme hatte, kannte einen niemand. Jeder behielt seine Sorgen für sich. Man nährte seinen Kummer und wurde durch ihn genährt, sonst wären diese Leute nicht hier gewesen. Es war allgemein bekannt, daß sich Vikar Pemberton um jene kümmerte, die von keiner Regierungsorganisation aufgenommen wurden.
    Auch andere Frauen waren anwesend, aber nicht einmal sie achteten auf Katherine Mortenhoe. Sie saßen da, in ihre vielen Mantelschichten gehüllt, und verschnürten oder öffneten ihre zahlreichen Papierpakete und ignorierten Katherine Mortenhoe, übersahen ihre Probleme.
    Delirium tremens, hätte man meinen können, Methylalkohol, reiner Alkohol, Putzmittel – egal was, sie schien es offenbar getrunken zu haben. Sie hatte das schlimmste Zittern, das diese ehrenwerte Gesellschaft von Zitterern jemals gesehen hatte. Also gingen alle auf Abstand. Gelebt und leben lassen. Gestorben und sterben lassen.
    Ich wählte ein Bett, das vier Betten von ihr entfernt war, setzte mich und zog meine Stiefel aus. Wenn ich wütend auf sie war, dann nur deshalb, weil sie ihr Spielchen mit uns gewagt hatte und nun verlor. Wenn ich auf mich wütend war, dann nur deshalb, weil mir die Nacht in der Polizeizelle so an die Nieren gegangen war. Es war bestimmt besser, wenn ich die Schuldgefühle beiseite ließ und mich auf meine Arbeit konzentrierte. Immerhin war ich Reporter. Und es gab die Möglichkeit, daß ich ihr tatsächlich helfen konnte.
    Wenigstens jammerte und wehklagte sie nicht. Ihr Zittern war diskret. Ich beobachtete sie in Großaufnahme. Niemand würde überrascht sein, wenn ich zu ihr ging und sie ansprach. Obwohl ich nicht wie sie gekleidet war und nicht als Angehöriger der Randgruppe gelten konnte, gehörten wir beide offenkundig nicht zum harten Kern der hiesigen Kirchenbesucher. Eher waren wir Durchreisende auf dem Weg vom Irgendwo ins Irgendwo. Niemand wäre also überrascht, wenn wir uns irgendwie zusammentäten… Zuerst brauchte ich jedoch einige Orientierungsaufnahmen. Etwas für die Anfangssequenz. Und was ich von ihr hinter der Motorradbrille erkennen konnte, sah gar nicht so schlimm aus. Sie machte gerade einen von Dr. Masons Schüttelfrösten durch und wartete auf das Ende des Anfalls. Ich sah sie sogar auf die Uhr blicken – methodische Katherine Mortenhoe!
    Ich machte Aufnahmen im Schlafraum. Alte, doppelstöckige Armeeliegen, einfache Stühle, abgetretener Steinfußboden. Und Menschen.

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