Tod oder Reben: Ein Wein-Krimi aus Südtirol (German Edition)
Seite der Straße. Dabei hing er seinen Gedanken nach. Er dachte an seine Jugendjahre in Bozen. Marco Giardino war mit dem Herzen ebenso Italiener wie Südtiroler. Mussolinis Umsiedlungsprogramm hatte seine Vorfahren von Kalabrien nach Bozen verschlagen, genauer gesagt in den «neuen» Stadtteil westlich des Flusses Talfer, wo bis heute vorwiegend Italienisch gesprochen wurde. Aber Marco beherrschte fast genauso gut den Südtiroler Dialekt. Und er hatte Freunde und gute Verbindungen in allen Bevölkerungsgruppen.
Aus der Jugendstilvilla trat eine dicke, an Jahren schon ältere, aber überaus agile Frau, sie sperrte die Haustür ab und kam über einen gepflasterten Weg zur Pforte am Gartenzaun. Marco versteckte sich hinter der Zeitung. Er kannte die Person von früher, sie war die Haushaltshilfe in der Villa – und es war besser, wenn sie ihn nicht entdeckte.
Er dachte an seinen alten Job in einem genossenschaftlichen Weinkeller. Dort war er bis zu seiner Verhaftung angestellt gewesen. Marco beherrschte sein Handwerk, das Trennen der Trauben von den Stielen, das sanfte Abpressen, die Steuerung des Pumpkreislaufs und der Temperatur in den Edelstahltanks, das Abziehen des Weins von der Maische, den Ausbau in Barriquefässern … Allerdings hatte er in seinem Beruf nie besonderen Ehrgeiz entwickelt und keine Sekunde daran gedacht, eine Ausbildung zum Kellermeister zu absolvieren. Denn natürlich konnte das alles nicht wirklich befriedigen, vor allem nicht finanziell. Deshalb hatte Marco parallel immer ein zweites Leben geführt, eines, in dem er seine alten Kontakte im Milieu nutzte. Er handelte mit zollfreien Zigaretten, brachte nachgemachte Uhren und Handtaschen unters Volk, auch gefälschtes Viagra. Und er vermittelte gelegentlich Nutten aus Süditalien oder aus Nordafrika. Marco hielt sich auf dem Gebiet der kleinen, schnellen Geschäfte für außerordentlich talentiert. Vor dem tödlichen Zwischenfall, der ihm den langjährigen Gefängnisaufenthalt eingebrockt hatte, war es besonders gut gelaufen, da hatte er an einem wirklich vielversprechenden Projekt mitgewirkt. Danach war alles in die Hose gegangen. In der Opera war er zur Untätigkeit verdammt gewesen. Aber jetzt war er hier!
Marco wartete noch einige Minuten, dann machte er sich auf den Weg. Er überquerte die Straße, ging am Zaun der Villa entlang, sah sich noch einmal um. Schwungvoll nahm er Anlauf, sprang auf einen Mauervorsprung, von dort über die schmiedeeiserne Pforte, er landete auf beiden Beinen, rollte sich ab – und lief geduckt zum Haus. Wie oft hatte er das schon gemacht? Wie lange war das her? Er rüttelte am Gitter zum Kellerfenster, hinter dem der Heizraum lag. Es war als einziges am Haus nicht verschraubt, das war schon immer so gewesen. Auch ließ sich das Kellerfenster, das wegen der Frischluftzufuhr das ganze Jahr gekippt war, mit einem einfachen Trick von außen öffnen. Marco zog das Gitter zurück an seinen Platz und verschwand im Haus. Ohne Licht zu machen, eilte er durch den Keller und über die Treppe hinauf ins Erdgeschoss. Im Foyer blieb er kurz stehen, aber außer seinem eigenen Atem war nichts zu hören. Wie erwartet, war er allein im Haus.
Im zweiten Stock fand er ohne zu suchen den Weg zu einem großen Zimmer unter der Dachgaube. Es war abgeschlossen, aber der Schlüssel lag oben auf dem Türsims. Marco öffnete, ging hinein und blieb stehen. Für einige Sekunden lief der Film rückwärts, Bilder blitzten auf. Marco gab sich einen Ruck, er hatte keine Zeit für Sentimentalitäten. Mitten im Raum waren etwa zwanzig große Umzugskartons gelagert, die Wände war holzvertäfelt, über dem Sofa lag zum Schutz eine große Decke, die Vorhänge waren zugezogen, das Licht war schummrig, und es roch muffig. Er zog einen Schraubenzieher aus dem Gürtel, ging zu einer Ecke und kniete sich hin. Es dauerte nicht lange, dann hatte er eine Platte von der Holzvertäfelung gelöst. Dahinter befand sich ein Hohlraum. Mit einer kleinen Taschenlampe leuchtete er hinein. Er fand ein Bündel Geld, das in einer Plastikfolie eingewickelt war, eine Kassette mit einer Rolex-Uhr, eine Schachtel mit Briefen und eine kleine Holzkiste mit Computerdisketten, mit Fotos, Tonbändern, Speicherkarten für Digitalkameras und einigen Aufzeichnungen sowie Fotokopien von Dokumenten. Außerdem ein rotes Modellauto – ein Ferrari 246 GT aus den siebziger Jahren. Obwohl Marco maßlos enttäuscht war, was die Dicke des Geldbündels betraf, musste er beim
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