Tod sei Dank: Roman (German Edition)
Stimme geschehen. Das Singen tat ihr fast weh, und ihre größte Sorge war, dass das Zuhören noch mehr wehtun könne. Sie sang trotzdem, und Peter war so höflich, ihr danach (mit immer noch geschlossenen Augen) zu applaudieren.
Sie streckte sich neben Nummer Circa-101 auf dem Rücken aus und starrte an die Decke. Wie oft hatte sie schon Zeltdecken wie diese angestarrt. Sie vermisste Heath auf dieselbe Weise, wie sie Heroin vermisste. Sie wusste, dass er nicht gut für sie war, dass er sie verletzt hatte, dass er viele Menschen verletzt hatte, dass er sie manchmal, wenn er wütend wurde, so sehr in Angst und Schrecken versetzte, dass sie sich stundenlang im Badezimmer einschloss. Wie lange würde es noch bis zu seiner Entlassung dauern? Würde sie jemals aufhören, ihn zu lieben? Würde sie jemals aufhören können, Verlangen nach ihm zu empfinden?
In Will Marion war sie niemals richtig verliebt gewesen. Sie probierte gern neue Sachen aus, und damals hatte sie geglaubt, dass sie es zur Abwechslung mal mit Zufriedenheit versuchen müsse. Doch letztlich konnte ein Vorstadtleben mit einem Durchschnittsmann und zwei anstrengenden Kindern niemals mehr als ein interessanter Einfall sein.
Heath hingegen … Wo war das Foto? Im Geldgürtel? Lieber Himmel, sie hatte es doch wohl nicht etwa am Strand verloren? Sie brauchte eine Zigarette, fand eine, zündete sie an und schüttete Geld, Reisepass, Schnappschüsse aus dem Geldgürtel, bis das kleine Foto von Heath auftauchte und ihre Panik abklingen ließ. Ach, Heath. Er war immer mehr als ein spontaner Einfall gewesen.
Mit vierzehn Jahren waren sie sich in Stoke Newington im Haus ihrer gemeinsamen Pflegeeltern zum ersten Mal begegnet. Er war damals schon einige Monate lang bei dieser Pflegefamilie gewesen – wie war noch mal ihr Name? John und Petra? Jane und Peter? Sie konnte sich nicht daran erinnern, weil sie nur für einige Tage geblieben war.
»Cynthia, das ist Heath. Er ist genauso alt wie du!«, hatte Peter oder John gesagt. Heath war damals schon über einen Meter achtzig groß. Und er sah sehr gut aus – und hatte Kippen.
»Gib mir eine«, sagte Cynthia, als ihr neuer Ziehvater in die Küche entschwunden war.
»Vierzig Pence«, sagte er.
»Wenn du mir ’ne Kippe gibst, tanze ich für dich.«
»Warum sollte ich das wollen?«
»Weil ich nackt tanzen werde.«
Damit war die Sache abgemacht. Im Geräteschuppen wand und drehte sich Cynthia wie eine Post-Pubertierende – sie fand es aufregend, ihre Brüste und die kürzlich herangesprossene Körperbehaarung zur Schau zu stellen. Ihre Choreografie hatte sie bei ihrer vorigen Pflegefamilie perfektionieren können. Die Bewährungshelferin hatte zwar mit Argusaugen darüber gewacht, dass weißen Pflegeeltern keine schwarzen oder gemischten Kinder zugesprochen wurden und dass das Haus ausreichend Fläche bot, um Waisen beiderlei Geschlechts zu beherbergen, aber den DVD – Schrank der Familie hatte sie nicht überprüft und folglich auch nicht bemerkt, dass er eine ebenso facettenreiche wie umfängliche Sammlung pornografischen Filmmaterials enthielt.
Heath verliebte sich schlagartig in sie. Er schenkte Cynthia die erste von vielen weiteren Zigaretten, und eine wunderschöne Liebesgeschichte nahm ihren Lauf. Um zwei Uhr morgens warfen sie in Heaths Dachbodenkammer ihre erste gemeinsame Ecstasy-Tablette ein. Am nächsten Tag klauten sie um vier Uhr nachmittags im Drogeriemarkt zwei Packungen Kondome und drei Schachteln Halsbonbons – Letztere, ohne sie benutzen zu wollen. Am darauffolgenden Tag schwänzten sie gemeinsam die Schule. Am Abend schrieben sie einen Song, rauchten Haschisch, küssten sich, tanzten miteinander, lachten, fassten sich an, vögelten …
Meine Güte, wie sie vögelten. Wütend.
Am Tag darauf hauten sie ab.
Und waren fortan ein unzertrennliches Paar.
Es folgte ein letztes Jahr bei Pflegeeltern – bei der netten Meredith, die sie dadurch überrascht hatte, dass sie keine Angst vor ihnen empfand und sie sogar zu mögen schien.
Danach gründeten sie eine Band und genossen ihr Leben in vollen Zügen. Sie experimentierten, forderten sich gegenseitig zu Tabubrüchen auf (Nimm diese Droge! Sing jenen Song! Brich in den Laden da ein! Machs mit der Kleinen dort, während ich euch zusehe!).
Es musste wahre Liebe sein. Das nahm Cynthia jedenfalls an. Ist es Liebe, wenn man jemanden so sehr begehrt, dass man bereit ist, sich gelegentlich von ihm verprügeln zu lassen? Oder manchmal für ihn
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