Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tod sei Dank: Roman (German Edition)

Tod sei Dank: Roman (German Edition)

Titel: Tod sei Dank: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen FitzGerald
Vom Netzwerk:
weitere Flasche Wein, ehe er die Wörter aufschreiben konnte. Im schmalen Einbauschrank neben dem Herd stand noch eine Flasche. Er hatte bislang Rotwein getrunken, und das hier war ein Weißer, aber daran störte er sich nicht. Er öffnete die Flasche, füllte sein großes Rotweinglas mit Weißwein auf und kehrte mit einem dünnen Rosé zu seinem Schreibtisch zurück.
    Er brauchte auch noch einen dieser Stifte, wie sie die Anwälte in den Gerichtsdramen immer benutzen. Nicht so einen Nullachtfuffzehnkuli, und auch nicht den mit dem flaumig-grünen Federdings dran, den Kay ihm geschenkt hatte, als sie sieben Jahre alt gewesen war. Er brauchte einen ernsthaften Stift. Na bitte, da war er ja: der Kugelschreiber in edlem Türkis und Chrom, den Georgie ihm letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte (»damit du einen oscarreifen Thriller schreibst!«). Sie wusste offenbar nicht, dass er niemals mit der Hand schrieb. Wer tat denn so etwas noch? Er hatte den Stift nie aus dem schwarzen Etui genommen.
    »Meine erste Anmerkung im Rechtsfall Georgie Marion lautet wie folgt«, lallte Will.

    Ich hätte besser erst ein Pro aufgeschrieben, dachte er, und Schuldgefühle bahnten sich ihren Weg durch seine betrunkene Anwaltsattitüde. Rasch fügte er hinzu:

    »Und jetzt wollen wir einen Blick auf Beweisstück Nummer zwei werfen: Kay Marion im Alter von null Jahren.« Da war sie, auf Seite eins ihres ersten Fotoalbums, und schon wenige Minuten nachdem sie den Körper dieser Frau verlassen hatte, lächelte sie. Es heißt ja, dass Neugeborene nicht lächeln können, aber bitte, sehen Sie sich das an. Wer wollte da noch zweifeln!
    Seite drei: lacht zweijährig, als Hamster Rudolf ihren Arm hochläuft.
    Vier: kichert dreijährig auf der Schaukel im Rouken Glen Park.
    Fünf: grinst vierjährig bei einer Ballettprobe.
    Will schenkte sich nach und schrieb:

    Er wusste, dass er einige Punkte unter »Kontra« eintragen sollte, und er dachte – ganz wie ein Anwalt – angestrengt darüber nach, was das sein könnte. Aber auf Grundlage der vorliegenden Beweismittel ließ sich über Kay im Alter von null bis fünf Jahren nichts Negatives sagen.
    Gegen drei Uhr morgens rückte er zur nächsten Position vor. War er jemals so dermaßen neben der Kappe gewesen? Vielleicht zusammen mit Si in seinen späten Teenagerjahren, als er vor dem Pub einen Ekeltypen mit dem Fahrrad gerammt hatte und dann nach Hause geradelt war und in den Wäschekorb gekotzt hatte. Um was ging es noch mal? Ach, richtig. Er benötigte Beweismittel aus der Abteilung »Fünf bis zehn«. Er musste eine Stunde lang lautstark Denis Denis von Blondie mitsingen, ehe er herausgefunden hatte, welche Beweismittel infrage kamen:
    Schulzeugnisse aus dem Aktenschrank, unter »S« abgelegt.
    Georgie hatte während ihrer ersten Schuljahre immer die gleichen Vermerke bekommen.
    Stört. Ist unaufmerksam. Kann sich nur schlecht konzentrieren. Wirkt uninteressiert. Zieht kreatives Arbeiten vor. Muss sich mehr anstrengen. Hat Schwierigkeiten im Umgang mit ihren Mitschülerinnen.
    Kays Vermerke waren auch immer gleich: Arbeitet hervorragend mit. Macht schnell Fortschritte. Ist fleißig. Ist immer interessiert und motiviert. Kommt mit ihren Klassenkameradinnen gut aus.
    Will konnte inzwischen nur noch mit Mühe lesbar schreiben, aber er rief sich ins Gedächtnis, dass Gerichtsverfahren kein Zuckerschlecken seien und Beharrlichkeit den Schlüssel zum Erfolg liefere.

    »Kreativ« hatte er zuletzt hingeschrieben, erneut als Reaktion auf ein Schuldbewusstsein, das nun schon etwas weniger stark an ihm nagte. Warum fiel es Georgie so schwer, sich anzupassen? Immer war die Schule schrecklich, waren die Schuluniformen blöd, gemeinsame Unternehmungen reine Zeitverschwendung. Ihre Freundinnen sprachen hinter ihrem Rücken immer schlecht über sie, aber die waren ja sowieso dumme Tussen.
    Himmel, war er besoffen.
    »Beweisstücke E und F für die Mädchen im Alter von zehn bis sechzehn Jahren?« Diesmal wusste er gleich, was er brauchte. Er lief die Treppe hoch – wobei er zweimal stolperte – und ging in Georgies Zimmer. Hier musste er sich durch die fünfzig Zentimeter dicke Schicht aus Papierkram und Schminkzeug wühlen, unter dem ihr Schreibtisch fast verschwand (nicht da), unter ihrem Bett herumkramen, wo ein heilloses Durcheinander aus Schmutzwäsche und niemals benutzten Geschenken, die er ihr gemacht hatte, herrschte (nicht da), die Bücherregale durchkämmen, auf denen sich pessimistische Romane

Weitere Kostenlose Bücher