Tod sei Dank: Roman (German Edition)
glaubst, das haben wir nicht?«
»Ich glaube, dass aus euch zwei außergewöhnliche Menschen geworden sind. Wenn ich geblieben wäre … ich weiß nicht, ob es dann auch so gekommen wäre.«
Sie hatte ihre Rede beendet und seufzte vor Selbstzufriedenheit. »Wo ist Will?«, fragte sie, und ihre Stimme klang ganz anders.
Wie kann sie es wagen, ihn Will zu nennen?, fragte ich mich. »Bei seiner Freundin.« Ich fand es prima, das zu sagen. War sie eifersüchtig? Zeigte sich irgendein Gefühl in ihren großen blauen Augen? Nicht, soweit ich sehen konnte. Sie wirkte allerdings ein bisschen verschwitzt. Und sie kratzte sich dauernd am Brustkorb.
»Er ist ein guter Mensch. Ich wusste, dass er euch ein guter Vater sein würde.«
Ich war drauf und dran, ihr die Wahrheit zu sagen: dass er ein fauler Loser sei, der sein Leben vergeudet und nichts zustande gebracht habe. Stattdessen sagte ich: »Ja, er ist gut. Du hast die richtige Entscheidung getroffen.«
»Kann ich ein paar Fotos anschauen?«, fragte sie. »Ich möchte euch als kleine Mädchen sehen.«
Ich schaute in der Vitrine nach, aber die meisten Fotoalben waren nicht da. »Ich gehe mal im Arbeitszimmer nachsehen«, sagte ich und begab mich zu Papas Privaträumlichkeit neben dem Wohnzimmer.
Der Raum war immer unordentlich gewesen, aber du meine Güte! Was hatte er hier angestellt? Bücher und Notizblöcke und Fotoalben und Schulzeugnisse und Gläser und leere Weinflaschen waren über den gesamten Boden verstreut. Der Aktenschrank stand offen. Die Schublade des Schreibtisches war dermaßen vollgekrempelt, dass sie nicht richtig zugegangen war, und – ha! ich hatte es doch gewusst! – mehrere Jointstummel lagen in einer kleinen Untertasse auf dem Aktenschrank. Raffinierter Schweinehund! Ich griff mir die Fotoalben und ging zurück ins Wohnzimmer.
Ich gebe es nur sehr ungern zu, aber mich freute die Vorstellung, mit ihr auf dem Sofa zu sitzen, ihr zu zeigen, wie wir als Kinder ausgesehen hatten, und ihr zu erzählen, was wir gerade gemacht hatten, als die Fotos aufgenommen worden waren.
»An diesem Tag war uns unheimlich kalt«, würde ich zum Beispiel sagen, wenn ich ihr das Foto von uns in Loudoun Castle zeigte. »Wir haben zu dritt im Gras gepicknickt, und wir mussten quasi aufeinander sitzen, um uns warmzuhalten. Papa ist ein guter Knuddler. Kay auch.«
Ich sagte nichts davon, weil mein Muttermensch – Gott beschütze ihre Baumwollsocken – sagte: »Heute habe ich Stütze beantragt. Sie bringen mich in einem Wohnheim unter, bis ich eine eigene Wohnung kriege.«
»Das ist gut.« Ich zeigte auf das Foto von Loudoun Castle, denn ich war immer noch bereit, sie mit gefühlsduseligen Geschichten zu beeindrucken und vielleicht sogar zum Weinen zu bringen.
»Es ist bloß so, dass das eine Weile dauern kann«, sagte sie.
»Das ist der Freizeitpark Loudoun Castle«, sagte ich.
»Etwa zwei Wochen, dann kommt die erste Kohle.«
Mein Gesicht lief mit einem Mal heiß an. »Du willst Geld?«
»Ich kann selbst nicht glauben, dass ich dich darum bitte. Ich schäme mich so sehr, Georgie.« Jetzt nahm sie mir doch tatsächlich das Album aus der Hand, klappte es zu und legte es auf den Couchtisch. »Ich bin heroinabhängig …« Sie legte eine Kunstpause ein. »Siehst du, jetzt ist es heraus.«
Nun war es an mir, eine Pause einzulegen – nicht zu Zwecken der dramaturgischen Steigerung, sondern weil mein Kiefer sich weigerte, an seinen angestammten Platz zurückzukehren. Als er es schließlich doch tat, sagte ich: »Geh zu deinem Hausarzt. Er soll dich in ein Methadonprogramm aufnehmen.«
»Man hat mir eins gestrichen, ehe ich abgehauen bin. Ich habe die Aufnahme in ein neues Programm beantragt. Und außerdem muss ich eine Zeit lang clean sein, bis ich für Methadon infrage komme. Ich muss beweisen, dass ich auf die Therapie anspreche. Das ist wie ein Teufelskreis. Ich brauche nur genug, um über die Runden zu kommen.«
Daher also das Jucken. Sie kratzte sich jetzt wie eine Besessene an der Brust.
»Das heißt, du bist hier, weil ich dir Geld für Heroin geben soll.«
»Nein, nein, nein, nein!«, sagte sie. Sie hatte die Wut aus meiner Stimme herausgehört und bereute ihre Ehrlichkeit. Mit zittrigen Händen nahm sie das Album vom Tisch und öffnete es wieder. »Erzähl mir etwas über dieses Foto. Ist das in England?«
Sie biss sich in die Hand – nicht in die Nägel, sondern buchstäblich in das Fleisch ihrer Hand. Außerdem wiegte sie sich ein bisschen vor und
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