Tod sei Dank: Roman (German Edition)
Zuhörer sackten ein wenig nach unten.
Den Mittelteil begann sie lebhaft (in diesem Fall damit, wie ihr genialischer, nicht kranker, immer-noch-zur-Schule-gehender Sohn sich »einfach dahintergeklemmt«, Zusatzmaterialien in der Bibliothek ausfindig gemacht und Schüler anderer Schulen befragt habe) …
Ein Flüssigkeitsfilm begann sich auf den Augen ihrer Zuhörer zu bilden.
Sie kam niemals zum Ende.
Aber mindestens die Hälfte ihres Publikums war gegangen, wenn sie ungefähr die Mitte des Nie-enden-Wollens erreicht hatte.
Und genau das geschah in diesem Fall. Harry, der außerstande war, ein Wort anzubringen und vor Langeweile kaum noch die Glieder rühren konnte, stand auf, gähnte, machte eine Ich-geh-ins-Bett-Geste – er legte die gefalteten Hände gegen den seitlich geneigten Kopf – und ging aus der Küche.
Kaum war er draußen, da sagte Will: »Du musst mir wehtun.«
Immer wenn Georgie wütend war, stürmte sie aus dem Haus und ließ die Tür offen stehen. Als Will sich dem Haus näherte, sah er, dass das auch heute Abend so gewesen sein musste: Die Haustür stand dreißig Zentimeter weit offen. Normalerweise hätte er sich jetzt Sorgen gemacht oder wäre wütend geworden. War jemand bei ihnen eingebrochen? Wie viel Geld hatte es wohl gekostet, die gesamte Straße zu beheizen? Sie waren doch nicht bei den Hottentotten! Diesmal war alles anders. Diesmal war er froh, dass Georgie nicht zu Hause war.
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Kapitel siebenunddreißig
Wie soll ich jemals die wahre Liebe finden, wenn mein Schnuckelchen mir tagein, tagaus das Leben aus den Adern saugt. Ach, Alfred, lass mich gehen.
Hoffnungslosigkeit war für mich ein vertrautes Gefühl. Ein paar Mal hatte ich sogar melodramatische Selbstmordankündigungen geschrieben und in mein Tagebuch geheftet. Einmal hatte ich einen Typen, der mir Dope verkaufte, gefragt, ob er wisse, wie man an eine Knarre käme. Er meinte, das sei ganz einfach. Näher bin ich einem Selbstmord nie gekommen. Mit anderen Worten: Ich war ganz weit weg. In Wahrheit bin ich nämlich immer schon ziemlich feige gewesen. Ich hasse Schmerzen. Und ich wollte ganz und gar nicht sterben. Die Nierenkatastrophe hatte mir das mehr als alles andere vor Augen geführt. Ich hatte noch so viel vor: Die große Liebe finden. Einen Film drehen. Hatte ich das jemals ausgesprochen? Ich wollte genau das Gleiche machen wie mein Vater in meinem Alter. Hoffentlich stellte ich mich dabei nicht so dämlich an wie er. Mir war sogar schon ein toller Filmtitel eingefallen: Hart gegeben. Ein Thriller mit Sexappeal. Das Gute würde siegen.
Entweder hatte Preston aufgehört, mir zu folgen, oder er war inzwischen sehr gut darin geworden. Drei Tage war es her, dass er mich bei Reece zu Hause beobachtet hatte, und seitdem fehlte jede Spur von ihm. Ich war aber auch ziemlich komisch drauf, dass ich es so genoss, verfolgt zu werden. Und dass ich es so analysierte, wie ich alles andere analysierte. In diesem Fall war ich zu dem Schluss gekommen, dass mir das Verfolgtwerden ein Gefühl der Wichtigkeit gäbe. Jede meiner Bewegungen war für jemand anderen von Interesse. Mein Stalker brachte all die Zeit und Energie auf, die nötig waren, um sich an meine Fersen zu heften. Vielleicht hatte er aufs Joggen verzichtet, um zuzusehen, wie ich im Laden an der Ecke eine Packung Kippen kaufte. Vielleicht hatte er seine Lieblingssendung im Bezahlfernsehen verpasst, um mich beim Zähneputzen zu beobachten.
Meine ganzes Leben lang hatte ich mich unwichtig gefühlt. Eine Zeit lang hatte ich eine gute Freundin gehabt, die es fast geschafft hätte, dass ich mich wichtig fühlte. Aber dann hatte ich die Schule abgebrochen, und sie war aus meinem Leben verschwunden. Kay hingegen, so sehr ich sie auch liebte, war ein Grund dafür, dass ich mich alles andere als wichtig fühlte. So gut wie sie in allem war, so scheiße war ich.
Gleich nach der Dialyse wollte ich nach Hause gehen und Papa um Prestons Kontaktdaten bitten. Ich würde ihn fragen, warum er aufgehört hatte, mir zu folgen. Hatte er jemand anderen gefunden? Gab es etwas, das es für ihn reizvoller machen würde, mich zu stalken?
Reece hatte Dienst. Er betrat die Station mit einer hoch professionellen Ich-trage-keine-Frauenkleider-Miene. Er stellte mein Gerät ein und warf mir einen Blick zu, der »Du bist ein böses Mädchen« zu sagen schien. Es ist anscheinend in Ordnung, wenn man im richtigen Moment ein böses Mädchen ist, aber danach ist es eine Charakterschwäche.
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