Tod sei Dank: Roman (German Edition)
Kleine, willige Schlampe, sagten seine Augen. Fast hätte ich mich vorgebeugt und ihn in die Schulter gebissen.
Ich war wütend genug, um sehr fest zuzubeißen.
Nicht genug damit, dass meine Mutter sich im Hinblick auf eine Organspende als totaler Fehlschlag erwiesen hatte (Sehnsucht, Warten, die perfekte Lösung … dann die Enttäuschung), war auch noch die arme Evie bei einer ebensolchen gestorben.
Zwei Tage zuvor hatte ich sie zuletzt gesehen, da war sie ganz aus dem Häuschen gewesen. Ihr Krankenbett war direkt an mir und Alfred vorbeigeschoben worden. Sie hatte hemmungslos geschluchzt.
»Viel Glück, Evie!«, hatte ich gerufen.
»Alles Gute!«, hatte Kay gerufen.
Genau wie die letzte Szene in Ein Offizier und Gentleman. Gerettet, weggetragen, bejubelt.
Am nächsten Tag erfuhr ich, dass Evies Körper sich gegenüber ihrer neuen Niere sehr unhöflich verhalten hatte. In ihrem Blut hatte sich das Gerücht verbreitet, ein Keim habe den Raum betreten. Daraufhin wurde ein Kampf ausgetragen und von Evies Immunsystem gewonnen. Es war kein Sieg für Evie, und auch keiner für ihre Enkelin (die Evie so sehr liebte, dass sie eine ihrer Nieren gespendet hatte).
Evies Catherine-Cookson-DVDs lagen auf einem Tisch in der Ecke. Vielleicht würde ich mir eine anschauen, um ihr zur Ehre zu leiden.
Auch Kay machte mich wütend. Nicht dadurch, dass sie etwas Schlechtes getan hätte, sondern weil sie dauernd so benommen war. Als ob sie Unsichtbarkeitstabletten genommen hätte, die sie für den Rest der Welt langsam immer unschärfer erscheinen ließen. Eines Tages in nicht allzu ferner Zukunft würde ich mich umdrehen, und sie würde völlig verschwunden sein.
Ich vermisste das Mädchen, das immer und überall ein halb volles Glas gesehen hatte. Jetzt hatte Kay sich in ein Gläser-gibt-es-gar-nicht-Mädchen verwandelt. Wenige Tage nachdem wir unserer Mutter begegnet waren, hatte sie beschlossen, ihre Prüfungen nicht in diesem Jahr abzulegen. »Ich kann keine einzige Seite lesen, ohne eine Pause einlegen zu müssen«, hatte sie gesagt. »Ich hole die Prüfungen nächstes Jahr nach.«
Nächstes Jahr. Würde es denn überhaupt ein nächstes Jahr geben?
Sie verbrachte jetzt die meiste Zeit im Bett. Nicht einmal die Glotze schaltete sie an. Sie lag einfach da und streichelte ihr Handy. Letzte Nacht hatte ich sie hineinsprechen hören (aber am anderen Ende der Leitung war niemand gewesen). »Bitte, bitte, mach weiter. Mach weiter, du kannst das«, hatte sie geflüstert. Ich hatte ihr nicht gesagt, dass ich sie gehört hatte. Es wäre ihr peinlich gewesen, und ich war die Letzte, die das wollte. Warum sollte sie nicht mit einem Hörer sprechen, der tot wie ein Fisch war? Machte ich doch selbst andauernd.
Nach der Dialyse nahmen Kay und ich ein Taxi nach Hause. Sittliche Verfehlungen nach der Dialyse kamen mittlerweile nicht mehr infrage. Ich hätte nicht mal genug Energie gehabt, um zum nächsten Pub zu laufen. Stattdessen schenkte ich mir ein Glas Wasser ein, und Kay schlich die Treppe zu ihrem Zimmer hoch.
Gerade lief Desperate Housewives. Ich musste an Papa denken, der einen Zettel hinterlassen hatte: Er sei drüben bei Linda. Gut gemacht, Papa, dachte ich. Wenn es jemanden gibt, der dringend mit einer verzweifelten Hausfrau bumsen muss, dann bist du das.
Eine der Frauen schoss gerade auf eine der anderen Frauen, als es klingelte. Ich schleppte mich zur Haustür und öffnete.
»Hallo, Kay«, sagte die Frau vor der Tür.
»Ich bin Georgie«, entgegnete ich. »Die Hässliche, weißt du noch?«
Ich war froh, dass mir so übel und schwindelig war. Andernfalls wären meine Resourcen wohl unwiederbringlich vom Planeten Cynthia aufgesogen worden.
»Ich weiß, dass ich es nicht verdiene«, sagte sie und stützte sich auf den Küchentresen, während ich mit verschränkten Armen am Kühlschrank lehnte. »Aber ich möchte euch beide näher kennenlernen. Ich möchte wiedergutmachen, was ich …«
Da es ihr Schwierigkeiten bereitete, den Satz zu Ende zu führen, übernahm ich das für sie: »… was ich als Mutter für einen Scheiß gebaut habe.«
»Männer gehen davon aus, dass Frauen ihre Kinder großziehen. Auf diese Weise können sie uns kontrollieren. Wir müssen nicht alles machen, was man uns sagt.«
Sie war also gekommen, um mir das Frausein beizubringen.
»Ich gehe Kay holen«, sagte ich. »Magst du vielleicht Tee aufsetzen? Oder ist das ein Angriff auf deinen Feminismus?«
»Kay! Der Muttermensch ist hier.«
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