Tod vor Morgengrauen: Kriminalroman
kam auf mich zu.
»Na, na, mein Junge, Männer weinen doch nicht«, sagte er tröstend.
»Nein!« Ganz deutlich hörte ich die Stimme meiner Mutter. »Weine, mein Kind! Wein, soviel du willst! Männer dürfen weinen!
Richtige Männer dürfen weinen!«
Das war typisch für sie. Zumindest erscheint es mir so, wenn ich zurückdenke; typisch für sie, für den Menschen, der sie war,
und wie sie mich zu erziehen versuchte.
Nämlich anders. Anders als es in Stilfontein üblich war, anders als seine Bewohner und deren Ansichten und wie sie die Dinge
angingen.
Es ist schwierig, den Seelenzustand einer Bergbaustadt zu beschreiben; man muss verallgemeinern. Die jungen Afrikaander mit
niedrigem Bildungsgrad und hohem Einkommen ergaben ein explosives Bevölkerungsgemisch. Sie lebten auf der Überholspur — verdienten
viel und gaben viel |64| aus für schnelle Autos, Motorräder und Frauen. Ihr Alkoholkonsum, ihr Charakter, alles passte sich der Geschwindigkeit an,
mit der der plötzliche Tod in den dunklen Tiefen der Erde über sie hereinbrechen konnte.
Und dazwischen eingebettet die kulturelle Oase von Joan van Heerden.
Die Bergbaugesellschaft wies ihr, uns, ein kleineres Haus in Stilfontein zu. Ich weiß nicht, warum sie nicht nach Pretoria
zog: Ihre Eltern und ihre Freunde lebten dort. Ich vermute, sie wollte in der Nähe meines Vaters sein, seines Grabs auf dem
grauen Friedhof im windumtosten Brachland an der Nebenstraße nach Klerksdorp.
Es fehlte uns nicht an Geld. Lebensversicherungen waren damals unter den Afrikaander groß in Mode. Und mein Vater war über
den Tod hinaus versorgt. Das Einkommen aber kam zum Teil auch von meiner Mutter, deren Bilder sich langsam, aber stetig zu
verkaufen begannen; jedes Jahr stiegen ein wenig die Preise für ihre Arbeiten, jedes Jahr veranstaltete sie in einer größeren,
bedeutenderen Galerie eine Ausstellung.
Vielleicht beruhte ihre Entscheidung, in Stilfontein zu bleiben, teilweise auch auf dem Wunsch, den Hauptströmungen der Kunst
fernzubleiben — sie hasste die Selbstgefälligkeit der so genannten Kunstliebhaber und der Kritiker. Daneben gab es die künstlerischen
Typen, seltsame Leute, die meinten, ausgefallene Kleidung und sonderbare Haartracht würden bereits reichen, um Zugang zum
innersten Zirkel der Kunst zu erlangen — die meinten, sie müssten dazu nur bohemehaftes und kulturbeflissenes Gebaren an den
Tag legen. Sie konnte sie nicht ausstehen.
|65| Daher waren wir in Stilfontein allein. Es gab einige Freunde in der Stadt — Dr. de Korte, unseren Hausarzt, und dessen Frau,
die van der Walts, die Bilderrahmen verkauften, und einige Leute aus Johannesburg und Potchefstroom, die manchmal am Wochenende
zu Besuch kamen.
Ruhige, ereignislose Jahre, in denen ich langsam älter wurde. Bis ich sechzehn war.
Meine Mutter hatte keine anderen Männer in ihrem Leben, sah man von den Ehemännern ihrer Freundinnen ab — und den Schwulen
in der Kunstszene wie Tony Masarakis, den griechischen Bildhauer aus Krugersdorp, der gelegentlich vorbeikam. Als ich neun
oder zehn war, äußerte er im Vorbeigehen, dass sie einen gut aussehenden Sohn habe. »Vergiss es, Tony«, sagte sie sehr entschieden.
Er musste es sich zu Herzen genommen haben, denn sie blieben noch jahrelang Freunde.
Sie war eine junge Witwe, noch keine dreißig Jahre alt. Und schön. Eine leidenschaftliche Frau. Würde sie für den Rest ihres
Lebens allein bleiben? Ich dachte nie darüber nach, bis ich die zwanzig erreicht hatte, und dann, wenn ich darüber nachdachte,
immer mit Gewissensbissen. Denn schließlich war sie meine Mutter, und ich war Afrikaander.
Ich weiß nicht, ob sie gelegentlich Befriedigung suchte, und schon gar nicht, ob sie sie fand. Falls dem so war, geschah es
mit größtmöglicher Diskretion und wahrscheinlich mit der strikten Anweisung an ihren (oder ihre) Partner, keine langfristige
Beziehung einzugehen, nein danke. Vielleicht an den Wochenenden, an denen sie zu den Ausstellungen am Kap, in Durban oder
in Johannesburg fuhr und ich zu Hause blieb.
|66| Aber nichts deutete darauf hin.
Die Frage lautete natürlich, ob bei dem Jungen, den seine Mutter von klein auf »Zet« genannt hatte, Narben zurückblieben,
nachdem er ohne Vater, ohne männliches Rollenvorbild aufwuchs. Ich hätte dies nur allzu gern als Ausrede gebrauchen wollen,
als Teil einer noch größeren Ausrede für die unwiderstehliche Welle, die mich schließlich in den
Weitere Kostenlose Bücher