Tod vor Morgengrauen: Kriminalroman
aus, bis ich am ganzen Körper zitterte und der große Mann seine Arme um mich legte und mich an
sich zog und festhielt, bis die Tränen nachließen.
Dann ging er und sperrte mich ein.
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Fünf Uhr morgens, draußen fiel der Regen in der dunklen Kälte.
Er rasierte sich und sah sich plötzlich selbst. Ein Anblick, so unerwartet, dass ihm ein Schauer über den Rücken lief. Er
sah im Spiegel seinen ganzen Körper: sein Gesicht, nicht das Gelbblau seines geschwollenen Auges, sondern sich, die buschigen
Augenbrauen, die leicht hakenförmige, nicht ganz gerade Nase; er sah das Grau an den Schläfen, sah, dass seine Schultern nicht
mehr so breit waren wie früher; sah die leichten Rundungen am Bauch und an der Hüfte, etwas Weiches; sah seine Beine, deren
lange Muskeln nicht mehr so ausgeprägt waren; sah den Zahn der Zeit, sah sich.
Er konzentrierte sich auf den Rasierschaum, tauchte den Rasierer ins Wasser, ließ sich vom Rhythmus, von den gewohnten Handlungen
ablenken, ließ den Körper im Wasserdampf der Dusche verschwinden, spülte das Waschbecken, trocknete sorgfältig mit einem Handtuch
das Gesicht, zog einen Trainingsanzug an. Er wollte keine Musik hören; Hope Beneke, die seine Musik gehört und gesagt hatte:
»Sie sind ein seltsamer Mensch, van Heerden.« Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er sich selbst durch den Widerspruch definiert,
ein Bulle zu sein, der Mozart hörte. Das war vorbei. Er schaltete das Licht im Wohnzimmer aus und zog den |138| Vorhang auf, sah durch den Regen auf das große Haus, spürte die Kälte. In den Bergen würde es schneien. Das Licht auf der
Veranda seiner Mutter brannte. Für ihn. Wie immer.
Seine Mutter. Die niemals gesagt hatte: »Reiß dich zusammen.«
Sie hätte es sagen sollen, unzählige Male, jeden Tag hätte sie es ihm sagen sollen, aber alles, was er von ihr bekam, war
ihre Liebe. Ihre Augen hatten ihm gesagt, dass sie verstand, auch wenn sie nichts wusste, auch wenn sie einen Scheißdreck
wusste; nur zwei Menschen wussten es, nur zwei.
Er und …
Er sah hinüber.
Dort das große Haus seiner Mutter, hier sein kleines Cottage, sein Zufluchtsort, sein Gefängnis.
Er riss den Vorhang zu, schaltete das Licht ein, setzte sich in den Sessel, lehnte sich zurück und schloss die Augen, Regen
schlug gegen das Fenster. Seit zwei Uhr war er wach, die fiebrige, unwirkliche, künstliche Euphorie der Schlaflosigkeit hatte
ihn wieder heimgesucht, weil er nüchtern zu Bett gegangen war und weil ihm heute bevorstand, dass er …
Sein Herz schlug schneller.
O Gott, nicht das auch noch.
Langsam atmete er aus, entspannte die Schultern, entließ die Spannung.
Langsam ein-, langsam ausatmen. Stetig verlangsamte sich sein Herzschlag.
Das erste Mal war es urplötzlich gekommen, vor fünf Jahren, |139| im Winter. Niedrig hängende Wolken, er saß in seinem Wagen, als sein Herz, völlig außer Kontrolle, zu rasen begann, es pochte
und pumpte und galoppierte in seinem Brustkorb, und die Wolken drückten sich auf ihn, schneller, immer schneller, und er wusste,
dass er nun abkratzte, Herzinfarkt, kein Herz konnte so schnell schlagen, es war kurz nach der Sache mit Nagel, einen Monat
oder so nach der Sache mit Nagel, und er war auf der N7 unterwegs und wusste, dass er sterben würde, er hatte Angst und war
überrascht, weil er sterben wollte, aber nicht jetzt, seine Hände zitterten, und sein ganzer Körper wurde durchgerüttelt,
laut sprach, brabbelte er vor sich hin, nein, nein, nein, langsam, langsam, nein, nein, und zwang seinen Atem durch die Lippen,
Geräusche, seltsame Geräusche, durch die alles langsamer wurde, und dann, langsam, ganz allmählich, ging es wieder vorüber.
Es geschah erneut, an anderen Tagen, jedes Mal, wenn es regnete und die Wolken tief hingen, bis ihn die Angst zum Arzt trieb.
»Panikattacken. Gibt es etwas in Ihrem Leben, worüber Sie sprechen möchten?«
»Nein.«
»Ich würde Sie gern zu einem Psychologen überweisen.« Schob das weiße Blatt Papier mit der schwarzen Tinte über den Tisch,
fürsorglich, mit der glatten, simulierten, geübten Fürsorge, die sie jedem Patienten auftischen konnten, wenn es die Situation
erforderte.
Er hatte das weiße Blatt Papier zusammengefaltet und in seine Tasche gesteckt, es draußen wieder herausgenommen und zusammengeknüllt
dem Nordwestwind übergeben, er hatte ihm noch nicht einmal nachgeblickt und gesehen, was |140| mit ihm geschah. Und die Panikattacken
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