Todes Kuss
doch in Griechenland würden dreihundert Jahre kaum jemanden beeindrucken. Dort ist man wahrscheinlich nur von Dingen angetan, die seit mindestens zwei Jahrtausenden existieren.
„Das würde ja bedeuten, dass man verschiedenen wunderbaren römischen Kunstwerken und Gebäuden keinerlei Bedeutung zumisst.“
„Hm …“
„Wenn Sie nach Santorin reisen, könnten Sie einen Abstecher nach Athen machen.“
„Ja, aber nur, wenn es sich mit meinen Plänen, Troja zu besuchen, vereinbaren lässt.“
„Ephesos wäre vielleicht doch ein geeigneteres Ziel. Vorausgesetzt, dass Sie sich die richtige Garderobe anschaffen, würde ich Sie gern dorthin begleiten.“ Colin griff dann nach meinem Arm, um mich zum Hotel zu bringen. Doch ich blieb noch einen Moment lang stehen. Mir gefiel es, ihm so nahe zu sein.
Tags darauf stattete Colin mir einen Besuch in meiner Suite ab. Ich freute mich so, ihn zu sehen, dass ich ihn spontan fragte, ob er nicht mit mir zu Abend essen wolle. Er nahm meine Einladung an, ohne zu zögern.
„Wann soll ich hier sein?“, fragte er und schaute an sich herab. „Ich muss mich zum Dinner umziehen.“
„Unsinn“, gab ich zurück. „Ich werde mich auch nicht umkleiden. Wenn wir hier in meinem Zimmer essen, sieht uns kein Mensch – außer meiner Zofe. Die wird wahrscheinlich schockiert sein. Aber sie ist verschwiegen und würde uns niemals verraten.“
„Ich habe immer angenommen, Damen würden sich gern schick machen.“
„Wenn ich etwas anderes als meine langweilige Witwengarderobe hätte …“, seufzte ich.
Er nickte. „Philip würde es zu schätzen wissen, dass Sie die lange Trauerzeit so gewissenhaft einhalten. Aber er wusste natürlich, wie sehr Sie ihn lieben.“
Ich senkte den Blick.
„Es tut mir leid, wenn ich traurige Erinnerungen wachgerufen habe. Bitte, verzeihen Sie mir!“
„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Wirklich nicht! Natürlich ist es nicht leicht, so jung Witwe zu werden. Und ganz gewiss möchte ich es Philip gegenüber nicht an Achtung fehlen lassen. Trotzdem würde ich mir wünschen – ich hoffe, Sie verstehen das –, hin und wieder ein Gespräch führen zu können, in dem er nicht allgegenwärtig ist.“
Colin schaute mir fest in die Augen. Sein Blick drückte Mitgefühl und Verständnis aus. Aber war da nicht noch mehr?
Mein Herz begann schneller zu schlagen, und ich fühlte mich außerstande, den Blick abzuwenden. „Ich habe Philip nicht so gut gekannt, wie die meisten annehmen“, murmelte ich. „Unsere Ehe war so kurz.“
„Ja, es dauert seine Zeit, bis sich ein echtes Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickelt. Und damit wollen wir das Thema abschließen. Sprechen wir lieber über die Zukunft. Wissen Sie schon, wann Sie nach Santorin reisen wollen?“
„Nein. Im Moment wünsche ich mir nur, noch eine Weile in Paris zu bleiben.“
„Paris ist eine interessante Stadt.“
„Das Leben hier gestattet mir mehr Freiheiten als das in London. Schließlich endet die Trauerzeit für mich erst kurz vor Weihnachten.“
„Da Sie in Halbtrauer sind, wird niemand Sie verurteilen, wenn Sie ein paar der Vorschriften nicht allzu eng auslegen.“ Während er sprach, fuhr er sich – wie es seine Angewohnheit war – mit der Hand durch sein volles dunkles Haar.
„Sie haben recht. Solange ich mich angemessen kleide und niemals den Anschein erwecke, mich wirklich gut zu amüsieren, kann ich inzwischen beinahe alles tun. Nur tanzen darf ich natürlich nicht.“
„Tanzen Sie gern?“
„Sehr gern!“
Colin runzelte die Stirn. „Ich muss gestehen, dass ich nie wirklich über die Regeln nachgedacht habe, die eine Dame in der Trauerzeit beachten muss. Haben sie Ihnen geholfen, den Verlust von Philip zu verarbeiten?“
Mir gefiel seine direkte und dabei doch nachdenkliche Art. Deshalb beschloss ich, ihm eine ehrliche Antwort zu geben. „Nein“, sagte ich.
„Ich denke, dass ein Mann, der seine Gemahlin verliert, genauso traurig ist wie eine Frau, die Witwe wird. Trotzdem verlangt die Gesellschaft von ihm viel weniger äußerliche Beweise für seine Trauer. Gerecht erscheint mir das nicht.“
„Eine sehr ungewöhnliche Feststellung für einen Gentleman“, sagte ich und schenkte ihm ein Lächeln.
Wieder trafen sich unsere Blicke. Eine Zeit lang schauten wir uns schweigend an.
„Emily, tanzen Sie mit mir. Bitte!“
Ich glaubte, ihn nicht recht verstanden zu haben.
„Tanzen Sie mit mir“, wiederholte er.
„Wir haben ja nicht einmal
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