Todes Kuss
geschlossen bleiben.“
„Philip ist nun seit anderthalb Jahren tot“, gab ich zurück. „Und niemand kann von mir verlangen, ewig im Dunkeln zu leben.“
„Prinz Albert ist seit beinahe dreißig Jahren tot. Trotzdem ehrt Königin Victoria sein Andenken noch immer“, ereiferte sie sich, die eine große Verehrerin Ihrer Majestät war. Sie schaute sich um. „Übrigens wäre es gewiss keine Missachtung deines verstorbenen Mannes, diesen Raum neu einzurichten.“
Philip hatte sich der herrschenden Mode widersetzt, Zimmer mit allem Möglichen vollzustellen, und damit genau meinen Geschmack getroffen. Besonders der Salon gefiel mir, zumal auf meinen Wunsch hin die meisten Jagdtrophäen entfernt worden waren.
„Nun lass das Mädchen doch“, kam mein Vater mir zu Hilfe. „Die Trauerzeit währt nun schon dreimal so lange wie die Ehe der armen Emily, und …“
Meine Mutter unterbrach ihn. „Du willst doch nicht etwa, dass sie all ihre Zukunftschancen verspielt? Sie muss sich nur an die Regeln halten, dann wird sie im nächsten Jahr bestimmt eine vorteilhafte zweite Ehe schließen.“
„Das möchte ich gar nicht, Mama. Mir gefällt es, selbst über mein Vermögen verfügen zu können.“
Vater lachte. Doch meine Mutter stellte zornig fest: „Red keinen Unsinn!“ Schon setzte sie zu einer weiteren ihrer langatmigen Moralpredigten an.
Ich war froh, als sie sich endlich verabschiedete, wobei sie nicht versäumte, den Butler daran zu erinnern, dass er die Vorhänge schließen müsse. Davis nickte höflich. Doch ich wusste, er würde nichts unternehmen, ohne zuvor meine Zustimmung einzuholen.
Er begleitete meine Eltern hinaus, kam jedoch gleich darauf zurück. „Madam, ich musste leider einen der Lakaien entlassen. Lizzy hat ihn überrascht, wie er Lord Ashtons Schreibtischschubladen durchsuchte.“
„Hat er etwas gestohlen?“
„Ich habe in seiner Kammer nachgeschaut und nichts gefunden. Aber vielleicht sollten Sie selbst den Inhalt der Schubladen noch einmal überprüfen.“
Obwohl ich nicht wusste, was Philip in seinem Schreibtisch aufbewahrt hatte, nickte ich.
Nachdem ich mich dieser Aufgabe unterzogen hatte, wandte ich mich den Bücherregalen zu. Es gab tatsächlich eine ganze Reihe von Werken, die sich mit dem alten Griechenland beschäftigten. Bisher hatte ich geglaubt, Philip habe sie während seines Studiums in Eton und Cambridge angeschafft. Nun betrachtete ich sie mit neu erwachtem Interesse. Schließlich zog ich einen Führer durch die griechische Abteilung des British Museum heraus.
Ohne mein Zutun fielen die Seiten auseinander, und mein Blick blieb an der Abbildung einer bemalten Vase hängen. Der Künstler hatte Achills Kampf gegen die Amazonenkönigin dargestellt. Ich betrachtete das Bild eine Zeit lang. Dann erst bemerkte ich ein Blatt Papier, das wohl nicht als Lesezeichen gedient hatte. „Durch Ihr Vorgehen haben Sie sich in große Gefahr gebracht“, stand nämlich darauf.
Seltsam … Es gab weder eine Anrede noch eine Unterschrift. Ein wenig beunruhigt legte ich das Blatt schließlich in die oberste Schreibtischschublade. Dann wandte ich meine Aufmerksamkeit noch einmal dem Buch zu.
Zu meiner eigenen Überraschung stellte ich fest, dass die dort abgebildeten griechischen Kunstwerke eine große Faszination auf mich ausübten. Ich begann einige der Beschreibungen und Erklärungen zu lesen. Und plötzlich war ich entschlossen, mir die Originale anzuschauen. Ich befahl, die Kutsche vorfahren zu lassen.
Als Kind hatte ich in Begleitung meines Vaters manchmal die Säle des British Museum durchstreift. Doch später, als meine Erziehung ganz in die Hände meiner Mutter und der von ihr ausgewählten Gouvernanten übergegangen war, hatte ich mich mit anderen Dingen beschäftigen müssen. Ich hatte Französisch und Italienisch sowie Sticken, Zeichnen, Singen und Klavierspielen gelernt. Natürlich hatte ich auch Unterricht in gutem Benehmen und Haushaltsführung erhalten. Zudem hatte man versucht, mir das selbstständige Denken abzugewöhnen. Zum Glück vergeblich …
Im Museum fragte ich sogleich nach einem Führer, denn ich hatte viele Fragen, auf die ich eine Antwort suchte. Man bat mich, einen Moment zu warten. Kurz darauf erschien ein Gentleman mittleren Alters, der mich mit einer tiefen Verbeugung begrüßte und sich als Alexander Murray, Kurator der Sammlung für griechische und römische Kunstwerke des Altertums, vorstellte. Während er mit mir einen langen Gang entlangschritt,
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